Candie Frazier kann nicht schlafen. In Gedanken sieht sie die verstörenden Videos vor sich, die sie als Löscharbeiterin für TikTok überprüfen musste. Nach einer Schießerei an einer Schule hat sie die Leichen von Kindern gesehen. Wenn Frazier endlich einschläft, bekommt sie Albträume. Das und mehr steht zumindest in der Klageschrift (PDF), in der Frazier schwere Vorwürfe gegen TikTok und dessen Mutterkonzern Bytedance erhebt.
In den USA fordert Frazier jetzt Entschädigung und gesundheitliche Hilfe – für sich und für andere Content-Moderator:innen, auch bekannt als Löscharbeiter:innen. TikTok habe sie nicht ausreichend vor potentiell traumatisierenden Videos geschützt.
Im Jahr 2020 gab es eine vergleichbare Sammelklage von Löscharbeiter:innen gegen Facebook. Der TikTok-Konkurrent hatte sich damals auf eine Entschädigung geeinigt: Umgerechnet rund 46 Millionen Euro war Facebook bereit zu zahlen. Entsprechend gespannt darf man auf den Ausgang der aktuellen Sammelklage gegen TikTok sein. Hinter beiden Klagen steckt die kalifornische Anwaltskanzlei Joseph Saveri Law Firm.
Weltweit sortieren abertausende Menschen verstörende Inhalte für Online-Plattformen. Allein für TikTok waren es Ende 2020 offenbar rund 10.000, wie ein TikTok-Manager damals der britischen Regierung mitteilte. Immer wieder gibt es Berichte über belastende Arbeitsbedingungen in der Branche. Die aktuelle Sammelklage gegen TikTok beschreibt im Detail, was hinter den Kulissen der Kurzvideo-Plattform angeblich alles schiefläuft.
Löscharbeit in 12-Stunden-Schichten
Ob die Vorwürfe stimmen, lässt sich nicht ohne Weiteres überprüfen. Eine TikTok-Sprecherin schreibt netzpolitik.org: „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu dem laufenden rechtlichen Verfahren in den Vereinigten Staaten nicht äußern können.“ Es ist sei TikTok „ein Anliegen“, dass sich Mitarbeiter:innen und Auftragnehmer:innen in ihrem Arbeitsumfeld wohlfühlen. „Wir bauen deswegen kontinuierlich unsere bestehenden Angebote zum emotionalen und mentalen Wohlbefinden von Moderator*innen weiter aus.“
Frazier ist der Klageschrift zufolge nicht direkt bei TikTok angestellt, sondern bei einem US-Unternehmen namens Telus. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Online-Plattformen andere Unternehmen für ihre Löscharbeit beauftragen. Aktuell ist Frazier aber offenbar nicht mehr als Löscharbeiter:in aktiv. TikTok lasse sie nach dem Einreichen der Klageschrift nicht mehr arbeiten, zitiert das Magazin Business Insider Fraziers Anwalt. Wir haben die Pressestelle von Telus gefragt, ob das stimmt, und werden den Artikel ergänzen, falls wir eine Antwort erhalten.
Als Löscharbeiterin habe Frazier in 12-Stunden-Schichten gearbeitet, heißt es in der Klageschrift. Für ein einzelnes Video habe sie demnach maximal 25 Sekunden Zeit gehabt. Die Flut an neuen Videos sei so enorm, dass Löscharbeiter:innen drei bis zehn Videos gleichzeitig sichten würden.
Fragwürdige Videos würden jeweils von zwei Löscharbeiter:innen überprüft. Dabei müssen sie ein Video einer von 100 Kategorien zuordnen. Fehler dürften dabei möglichst nicht passieren. Frazier und ihre Kolleg:innen sollten mindestens acht von zehn Videos richtig einordnen.
Traumatisierende Bilder
Die Pausen sind laut Klageschrift streng begrenzt. In den ersten vier Stunden beim Sichten potentiell verstörender Inhalte („graphic content“) gebe es 15 Minuten Pause. Danach gebe es alle zwei Stunden weitere 15 Minuten Pause. Die Mittagspause sei eine Stunde lang.
Durchgeführt und überwacht werde die Löscharbeit mit einer Software namens TCS. Laut Klageschrift müssen Löscharbeiter:innen um ihre Bezahlung fürchten, wenn sie sich außerhalb der vorgeschriebenen Pausenzeiten mal eine Verschnaufpause gönnen.
Triggerwarnung: Die Klageschrift nennt auch einige Beispiele von verstörenden TikTok-Videos, die Frazier als Löscharbeiterin anschauen musste. Sie können belastend und retraumatisierend sein. Wer das nicht lesen möchte, springt bitte direkt zum Abschnitt: Was TikTok besser machen könnte.
Ein Video, das auf Fraziers Bildschirm gelandet ist, zeigte der Klageschrift zufolge Menschen, die aus einem zerschmetterten Schädel essen. Andere Videos sollen gezeigt haben, wie ein Fuchs lebendig gehäutet wird und wie ein Mann einer lebenden Ratte den Kopf abbeißt. Im Jahr 2019 hat eine VICE-Recherche gezeigt, wie verbreitet Tierquälerei auf TikTok ist.
Auch sexualisierte Gewalt gegen Kinder habe Frazier mitansehen müssen, außerdem die Hinrichtung einer Frau durch Abschlagen des Kopfes. Andere Videos hätten Abtreibungen in Hinterhöfen gezeigt.
In der Folge ihrer Arbeit habe Frazier schwere psychologische Traumata entwickelt, unter anderem Depression und Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen.
Was TikTok besser machen könnte
Heute habe Frazier „schwere und lähmende“ Panikattacken, heißt es in der Klageschrift. Sie habe Angst, wenn sie unter Leuten sei, und habe viele Freunde verloren. TikTok und Mutterkonzern ByteDance seien sich der negativen seelischen Auswirkungen laut Klageschrift bewusst. Branchenübliche Maßnahmen zum Schutz der Löscharbeiter:innen habe TikTok aber nicht umgesetzt. Nähere Rückfragen zu einzelnen Vorwürfen hat TikTok auf Anfrage von netzpolitik.org nicht beantwortet.
Um Löscharbeiter:innen zu schützen, könnten potentiell verstörende Videos zum Beispiel verkleinert, verschwommen oder stumm abgespielt werden. Das ist der Klageschrift zufolge nicht passiert. Weiter heißt es, neue Löscharbeiter:innen würden nicht ausreichend über die potentiell schädlichen Auswirkungen der Arbeit auf ihre Psyche vorbereitet.
Wie viele Löscharbeiter:innen außer Frazier Anspruch auf Entschädigung haben könnten, ist laut Klageschrift nicht genau bekannt. Es könnten demnach Tausende sein. Falls die Sammelklage Erfolg hat, wäre es besonders interessant, wie viel TikTok den Betroffenen zahlen würde. Nach der ähnlichen Sammelklage gegen Facebook konnten einzelne Löscharbeiter:innen laut Medienberichten mit mindestens 1.000 US-Dollar rechnen. Das sind umgerechnet rund 880 Euro.
Ein Recht auf eine höhere Entschädigung von bis zu 50.000 Dollar (rund 44.000 Euro) hatten demnach Facebook-Löscharbeiter:innen, die Diagnosen für entsprechende Erkrankungen nachweisen konnten. Anwalt Steve Williams äußerte sich im britischen Guardian „begeistert“ über das Facebook-Urteil.
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