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BKA-Herbsttagung 2021: Unter Sicherheitsleuten

BKA-Präsident Holger Münch und Innenminister Horst Seehofer bei der Bundespressekonferenz. Münch spricht und gestikuliert.

Es sollte mein erster (!) Außeneinsatz für netzpolitik.org werden. Nachdem ich im Sommer 2020 nach Beginn der Pandemie als Praktikantin an Bord gekommen war, habe ich viele Artikel geschrieben, viele Telefonate und Videokonferenzen geführt, Themen recherchiert und Presseanfragen verfasst. Doch noch nie habe ich dabei meinen Schreibtisch verlassen. Als inoffizielle Rhein-Main-Korrespondentin war die Aufregung groß, als es für mich zur BKA-Herbsttagung nach Wiesbaden gehen sollte. Warum auch nicht, ich war schon immer an fremden Kulturen interessiert.

Doch nachdem ich mit meiner blütenweißen Weste den obligatorischen Sicherheitscheck des Bundeskriminalamtes bestanden hatte, folgte schnell die Enttäuschung. Angesichts rasant steigender Infektionszahlen wurde die Veranstaltung doch noch ins Internet verlegt. Also doch wieder Schreibtisch. Dafür konnte ich dem, was bei der Herbsttagung vor sich ging, aus Jogginghose und Hausschuhen heraus folgen, dabei kalte Pizza von gestern essen, und musste meine Gesichtsausdrücke nicht unter Kontrolle halten.

Es war besser so.

Hysterische Verfassungsfreund:innen

„Stabilität statt Spaltung: Was trägt und erträgt die innere Sicherheit?“ Unter diesem Motto kamen Menschen aus Polizei, Medien, Wissenschaft und Politik für zwei Tage in einem eigens dafür gestalteten BKA-Metaverse zusammen, um über die Spaltung der Gesellschaft zu diskutieren. Los ging es mit einer über einstündigen Rede des scheidenden Innenministers Horst Seehofer.

Nachdem einem freundlichen Glückwunsch ans BKA, das in diesem Jahr seinen siebzigsten Geburtstag feiert, irrlichterte Seehofer sich durch alle Felder der Innenpolitik, sodass der weniger geneigten Beobachterin die Kinnlade auf die Tastatur rauschte.

Seehofer beklagt den großen Gegenwind, den er für ausgeweitete Befugnisse der Sicherheitskräfte, vor allem im Internet, immer zu spüren bekam. Gegner:innen würden „Verschwörungserzählungen vom perfekten Überwachungsstaat“ verbreiten; das Wort Vorratsdatenspeicherung würde „hysterische Abwehrreaktionen“ hervorrufen. Unklar ist, ob er in diesem Fall den Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (brandneu!), Journalist:innen von netzpolitik.org, die EDRi, das belgische Verfassungsgericht, die wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, den Europäischen Gerichtshof, den NSA-Sonderermittler oder mindestens zwei der drei Ampel-Koalitionäre der Hysterie beschuldigt.

Was im Cyberspace passiert, bleibt im Cyberspace

Deutschlands Sicherheit vermutet Seehofer auf jeden Fall im Cyberspace. Man könne nicht über Sicherheit reden, ohne Cybergefahren anzusprechen. Man müsse davon ausgehen, dass Cybergefahren noch größer werden. Eine Elektromarktkette sei kürzlich von einem Cyberangriff betroffen gewesen. Cyberkriminelle machen sich technischen Fortschritt zunutze.

Umso wichtiger sei es, dem Verfassungsschutz endlich zu ermöglichen, bei der Überwachung der Täterkommunikation auch Messengerdienste in den Blick zu nehmen. Überhaupt, der Verfassungsschutz. Auf den ist Seehofer ganz besonders stolz. Für ihn steht das Bundesamt „außerhalb jeder öffentlichen Kontroverse“, genau wie alle anderen Sicherheitsbehörden unter seiner Aufsicht. Womit zumindest die Existenz von Paralleluniversen bewiesen wäre.

Nach den obligatorischen Selbstversicherungen, auch der Linksextremismus sei ein großes Problem, ist Seehofers Redezeit auch schon vorbei. Zum Abschied schenkt der BKA-Präsident dem Innenminister eine Drohne, damit er seine Modelleisenbahn überblicken kann. Keine Informationen gibt es zur  Bewaffnung des Geschenks, das sich ohnehin als überflüssig herausstellte, da Seehofer bereits eine Drohne besitzt.

Kochen, Kooperation, Kontrolle

Auf den Minister folgt der Bundespräsident, der gewohnt unspektakulär seine präsidialen Grußworte über der Veranstaltung ausgießt. Was die Besucher:innen noch nicht wissen: Sie werden diese rhetorische Pause brauchen, um sich auf den folgenden Vortrag vorzubereiten, immerhin die Keynote der ganzen Tagung.

Unsere Leser:innen müssen mir verzeihen, dass ich keine inhaltlich substanzielle Zusammenfassung des Vortrags bereitstellen kann. Zu sehr ließen mich gewisse Stilblüten ratlos zurück. Hier eine Auswahl:

Die größte Bedrohung ist der Immerschlimmerismus.

Was haben der schwarze Block, demonstrierende Frauen in Saudi-Arabien, Magermodels, Internettrolle, PEGIDA, Querdenken und die Taliban gemeinsam? Einen Mangel an Selbstwirksamkeit und Vertrauen.

Wir brauchen mehr KO-Kultur: Kochen, Kooperation, Kontrolle.

An dieser Stelle war der Vortrag für mich nicht mehr aktiv verfolgbar, da mir die Phrasen vom gespaltenen Deutschland zwischen Ich und Wir leider automatisch wieder aus den Ohren rauspurzelten. Aber auf jeden Fall ist die Zukunft dreidimensional!

Der Vorhang zu und alle Fragen offen

Nachdem wir vom Präsidenten erfahren haben, dass das BKA „Solution Provider“ werden möchte, dürfen alle Teilnehmer:innen in die Hofpause, nur die Journalist:innen müssen leider nachsitzen: Pressekonferenz.

Wir hatten so viele Fragen. Wie steht das BKA dazu, dass der Hersteller des von ihm eingesetzten Staatstrojaners wegen Menschenrechtsverletzungen auf einer Sanktionsliste des US-Handelsministeriums steht? Wie sieht das Amt allgemein die Verhältnismäßigkeit, IT-Sicherheitslücken für Staatstrojaner offen zu lassen, wo sie doch den ganzen Tag von Cybersicherheit schwadronieren? Wie steht das BKA zu den EU-Plänen bei der Chatkontrolle, wo Nachrichteninhalte vor der Verschlüsselung auf Darstellungen von Kindesmissbrauch gescannt werden sollen?

Leider passten unsere Fragen nicht so richtig in die Wohlfühlatmosphäre im BKA-Metaverse. Zwei von dreien wurden ignoriert, die mittlere verändert vorgetragen, sodass sie ins sprachliche Framing passte. Plötzlich war nicht mehr von Staatstrojanern die Rede, sondern von Quellen-TKÜ. Aber BKA-Präsident Münch wusste Beruhigendes zu berichten. Für die Quellen-TKÜ sei es gar nicht unbedingt nötig, eine Schwachstelle auszunutzen. Die Strafverfolger:innen könnten auch das Gerät eines Verdächtigen selbst in die Hand bekommen. Damit könne „der Fragensteller“ ja kein Problem haben (Doch!). Das Thema „Schwachstellenmanagement“ werde in der nächsten Legislatur aber ganz sicher bearbeitet werden.

Erholsame Vernunft

Die Ratlosigkeit über vieles drohte, das wenige wirklich Aufschlussreiche in den Hintergrund zu drängen. Eine Professorin der Goethe-Universität Frankfurt, Nicole Deitelhoff, berichtete aus der Protest-Forschung. Abgesehen von der irritierenden Überschrift des Vortrags, „Der Protest: Gestaltungskraft oder Bedrohungspotenzial?“, lieferte sie interessante Berichte dazu, wie Protest sich über die Jahrzehnte verändert hat, welche Themen ihn in unterschiedlichen Regionen bestimmen und in welcher Form die daraus resultierende Polarisierung der Demokratie zuträglich ist, nämlich solange sich die Lager über Themen streiten und sich nicht nur mit Wir-gegen-Die beschäftigen.

Auch die kritischen Bemerkungen von Anetta Kahane, der Vorsitzenden der Amadeu-Antoino-Stiftung, zu rechten Tendenzen in der Polizei wären fast zwischen der Selbstvergewisserung des Pressesprechers der Berliner Polizei und den irritierenden Fragen der Moderatorin („Woher kommt das, dass Polizisten sich auf einmal rechtsextrem verhalten?“) untergegangen.

Julia Ebner, Autorin des Buches Radikalisierungsmaschinen, berichtete eindrücklich, wie sie sich in die verschiedensten extremistischen Online-Gruppen einschleuste und was sie dort erlebte, von IS-Hackern über Nipster bis hin zu DIY-Terroristen. Eine erholsam vernünftige halbe Stunde zum Start in den zweiten Veranstaltungstag.

Das Märchen der Clankriminalität

Dann folgte eine Debatte über „Clankriminalität“. Der latente Rassismus, der über der Diskussion schwebte, war schwer zu ertragen. Was hängen blieb: „Clankriminalität“ gibt es nur, weil ihr da oben in Berlin zu viel über Anti-Rassismus redet und sich deshalb keiner traut, das Problem in die Hand zu nehmen. Die Anti-Rassismusdebatte in Deutschland ist problematisch, weil sie oft wiederum in Rassismus umschlägt, zum Beispiel gegenüber der Polizei, die als ganze Gruppe insgesamt rassistisch dargestellt werde (Hä?).

Das Problem des Rassismus wird zwar auch in der Debatte problematisiert. Die Referenten erklären allerdings nicht, warum drogenverkaufende, arabische oder kurdische Großfamilien „Clan“ heißen sollen und reiche, deutsche Wirtschaftskriminelle nicht.

Um Wirtschaftskriminalität sollte es im Anschluss gehen, beim Vortrag der europäischen Generalstaatsanwältin Laura Codruţa Kövesi. Gemerkt habe ich mir, dass sie mal Mannschaftssport gemacht hat und Polizeiarbeit damit und mit dem Kampf gegen das Böse, gegen Feinde, vergleicht. Ihr liebster Teil war nie das Gewinnen, sondern der Moment, in dem die Arroganz des Gegners bröckelt. Hübscher Vergleich in Zeiten, in denen Polizist:innen auf Hälsen von Schwarzen Menschen knien, bis die um ihr Leben betteln.

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Im Anschluss ging es noch um digitale Hasskriminalität, warum ein sächsischer Bürgermeister der Meinung ist, wir müssten Nazis mehr Gesprächsangebote machen und um Demokratieschulung von Polizist:innen. Irgendwie hinterlassen mich die vergangen zwei Tage mit dem Gefühl, dass das bei manchen auch dringend nötig ist.

Was bleibt noch von der BKA-Herbsttagung? Die Spaltung der Gesellschaft hat sie sicher nicht überwunden, schon gar nicht die gedankliche Spaltung zwischen mir und dem Sicherheitsapparat mit seinen Überwachungsphantasien und seinem mal mehr, mal weniger gut versteckten Rassismus. Vieles, was zur Digitalisierung gesagt wurde, geht nicht über ein abstraktes „Cyber, Cyber“ hinaus.

Und so bleibe ich ratlos an meinem Schreibtisch zurück. Die Herbsttagung 2021 war mehr Rückblick als Ausblick auf die Polizeipolitik der künftigen Bundesregierung. Niemand weiß so recht, was da kommen mag. Ob die neue Regierung wie die alte zu den immer gleichen invasiven, grundgesetzwidrigen Überwachungsmaßnahmen greifen wird, um die Probleme der heutigen Zeit in den Griff zu bekommen. Welcher Wind in Zukunft im Innenministerium wehen wird. Nur eins ist sicher: Die Redaktion von netzpolitik.org schaut euch dabei vom Schreibtisch und im echten Leben auf die Finger.


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