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Notruf-App „Nora“: Mehr als nur das nächste staatliche Versagen

Straße durch einen Wald, befahren von Fahrzeugen der Polizei, der Feuerwehr und des Rettungsdienstes, teilweise mit Blaulicht.

Es war ein kurzer Spaß. Zwei Tage nach dem offiziellen Start der Notruf-App Nora musste das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen den Rückzug antreten. Zu hohe Download-Zahlen, angeblich verursacht durch den regionalen Ausfall der Notrufnummern 110 und 112, hatten die Infrastruktur in die Knie gezwungen.

Dabei fing alles so optimistisch an. Auf einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche präsentierte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul die Nora-App, die unter Federführung seines Bundeslandes entstanden ist. Sie soll in allen Bundesländern außer Berlin für Notrufe an Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst zur Verfügung stehen. Der Start in Berlin verzögert sich auf unbestimmte Zeit, da die „vorgesehene Beteiligung der Beschäftigtenvertretung noch andauert“, so ein Sprecher des Berliner Innensenators.

In erster Linie ist die App für gehörlose und sprechbehinderte Menschen gedacht, die am Telefon nicht sprechen können und für die der normale Notruf deshalb keine Alternative ist. Diese Menschen können die App auch weiterhin herunterladen, aber nicht mehr über den App-Store. Sie bekommen den Zugang aktuell ausschließlich über den Support der App-Betreiber:innen, für bereits registrierte Nutzer:innen bleibt die App weiterhin funktionsfähig.

Notruf muss über Muttersprache möglich sein

Bislang mussten gehörlose Menschen in Deutschland ein Fax senden, um die Notrufzentralen zu kontaktieren. Alternativ konnten sie auf den kommerziellen Dienst TESS ausweichen, der Telefonate zwischen gehörlosen und hörenden Menschen simultan übersetzt und auch einen kostenlosen Notruf-Dienst anbietet. TESS bietet seinen Nutzer:innen aber keine Ortung an und kann erst nach vorheriger Registrierung genutzt werden. Im Notfall kann das wertvolle Sekunden kosten.

Die Nora-App sollte hier Abhilfe schaffen. Wenn ein Notfall eintritt, können Nutzer:innen in der App die Leitstelle kontaktieren und Angaben zum Notfall machen. Bestimmte Informationen, zum Beispiel zum Gesundheitszustand oder möglichen Behinderungen, können im Vorfeld schon eingespeichert werden, sodass es im akuten Fall schneller geht. Die App kann die hilfesuchende Person dann orten und die Rettungskräfte zum Ort des Geschehens führen. Eine Chatfunktion ermöglicht der Leitstelle Rückfragen.

Doch gerade in dieser Chatfunktion liegt für viele gehörlose Menschen der Stein des Anstoßes. Grundsätzlich begrüßen sie die Einführung der Nora-App. Sie kritisieren aber, dass es über die App keine Möglichkeit für Videotelefonate gibt. Das bedeutet, dass gehörlose Menschen die App nicht in ihrer Muttersprache, der deutschen Gebärdensprache, nutzen können. Das kritisierte der Deutsche Gehörlosen-Bund (DGB), eine Interessensvertretung für gehörlose Menschen, schon in einer Stellungnahme im Juli: „Insbesondere im Bereich des Notrufs, der auch für gehörlose und hörbehinderte Menschen in Ausnahmesituationen eine wichtige Funktion erfüllt, kann es nicht sein, dass manche gehörlose und hörbehinderte Personen auf schriftliche Formate (Textchat) in deutscher Sprache verwiesen werden. Denn gerade in Ausnahmesituationen greifen gehörlose Personen eher auf ihre Erstsprache bzw. Muttersprache zurück. Diese ist die Deutsche Gebärdensprache.“

In der Deutschen Gebärdensprache sei den gehörlosen Personen die Grammatik vertraut. Sie könnten sich so mithilfe von Dolmetscher:innen ohne Probleme verständigen. Die Voraussetzung hierfür wäre allerdings ein Videotelefonat zwischen Gebärdensprachdolmetscher:in und gehörloser Person. Auch dem DGB ist klar, dass hierfür die digitale Infrastruktur in Deutschland vielerorts noch nicht bereit ist: „Die Verbesserung der flächendeckenden Mobilfunkversorgung, der Ausbau der Mobilfunknetze, schnelles Internet, die zügige Schließung bestehender Funklöcher und weißer Flecken sowie kostenlose WLAN-Hotsports in Bahnhöfen und Zügen [müssen] in Deutschland oberste Priorität haben, damit eine stabile Videoübertragung in Deutscher Gebärdensprache gewährleistet werden kann.“

Keine Beteiligung auf Augenhöhe

Daniel Büter, politischer Referent beim DGB, berichtet im Interview mit netzpolitik.org von der mangelnden Einbindung von Menschen mit Behinderung bei der Technologieentwicklung: „Bei Gesprächen im Kontext der Taskforce Barrierefreiheit, zum Beispiel in Bezug auf die Notruf-App, haben wir allerhöchstens eine beratende Funktion. Man hört uns zwar an, aber wirklich beteiligt werden wir nicht.“ Das Ergebnis sei dann oftmals ein minimales Entgegenkommen seitens der Verantwortlichen, aber keine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. „Wir wurden als Selbstvertretungsorganisation nie wirklich in den Mitwirkungs- und Entscheidungsprozess zur Einführung einer Notruf-App im Beirat beziehungsweise in der Expertengruppe Leitstellen und Notruf eingebunden. Ich finde das traurig“, so Büter.

Warum die Videotelefonie trotz Empfehlung der Betroffenen nicht in die App integriert wurde, wollten wir vom nordrhein-westfälischen Innenministerium wissen, das bundesweit für die App verantwortlich ist. Trotz mehrfacher Nachfrage haben wir bis heute keine Antwort erhalten.

Offen bleibt so auch, warum die App nicht Open Source ist. Entwickelt wurde sie von der „bevuta IT GmbH“, einer Softwarefirma aus Köln. Bedenkt man die Eingriffe in die Privatsphäre, die man der App zugestehen muss, beispielsweise die Ortung des eigenen Smartphone und die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten, wäre mehr Transparenz und ein offener Quellcode Grundvoraussetzung für Vertrauen.

Mehr als nur der nächste staatliche Fail

Auf den ersten Blick erscheint die Nora-App und das Gestolper um ihre Einführung einfach nur wie das nächste digitale Versagen mit staatlicher Beteiligung. Überforderte Infrastruktur, fehlendes Bewusstsein für Transparenz und mangelnde Funktionalität, alles keine Neuheiten. Doch in diesem Fall reichen die Probleme noch tiefer ins System. Es gibt einen systemischen Ausschluss von Menschen mit Behinderung und ihrer Bedürfnisse aus der Technologieentwicklung, selbst bei Anwendungen, die in erster Linie für sie gedacht sind.

Im europäischen Ausland zeigt sich, dass es ganz und gar nicht unmöglich ist, eine Notruf-App zu entwickeln, die sich an den Bedürfnissen ihrer Hauptzielgruppe orientiert. In Frankreich, Litauen und Portugal können gehörlose Menschen den Notruf über die nationale App auch per Videotelefonie kontaktieren. 

NRW-Innenminister Reul wurde nicht müde, auf der Pressekonferenz zu betonen, dass die App auch Menschen ohne Behinderung zugute kommen kann: Wer in einer gefährlichen Situation nicht sprechen kann, könnte zum Beispiel einen stillen Notruf absetzen, ohne dass es jemand mitbekommt. Umso unverständlicher erscheint es, dass man dann von den hohen Download- und Registrierungszahlen so überrascht wurde und die App gleich ganz aus den App-Stores genommen werden muss.


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