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Arbeit: Lieferando und seine Betriebsräte

Eine Person mit großem, oragenen Lieferandorucksack im Frankfurter Hauptbahnhof

Lieferando ist beinahe uneingeschränkter Monopolist auf dem deutschen Essensliefermarkt. Die Lieferfahrer*innen im markanten Orange sind in Städten und Orten quer durch Deutschland vertreten. Im Corona-Jahr 2020 nahm der Wert der Bestellungen um drei Viertel zu, Lieferando machte einen Umsatz von 161 Millionen Euro. Dieses Jahr schaltet die Mutterfirma Just Eat Takeaway bei der nachgeholten Europameisterschaft Werbung – neben VW, Alipay, TikTok oder Gazprom.

Betriebsräte gibt es bei Lieferando seit 2019. Die gewählten Vertretungen haben sehr große gesetzliche Macht, sie können zum Beispiel Neueinstellungen blockieren und müssen bei vielen Entscheidungen im Unternehmen beteiligt werden. Sie sind wohl der wichtigste Weg für Arbeitnehmer*innen in Deutschland, sich bei ihrem Unternehmen Gehör zu verschaffen.

In den letzten Jahren ist Lieferando auf verschiedenen Wegen gegen neue Betriebsrats-Gründungen vorgegangen. Zumindest ein wenig hat sich das Klima zwischen Unternehmen und Betriebsräten Ende letzten Jahres verbessert, aber im hessischen Darmstadt ist Lieferando vor einigen Monaten wieder gegen die Gründung eines Betriebsrats vor Gericht gezogen. Das Urteil wird mit Spannung erwartet, denn es könnte die Türen für noch viel mehr Betriebsräte öffnen.

Betriebsräte mit Foodora geschluckt

Ende 2018 kündigte Lieferando an, dass es die Konkurrenten Lieferheld, Foodora und Pizza.de schlucken würde. Das bereitete einigen der Angestellten dort Sorgen, denn im Gegensatz zu Lieferando gab es zumindest bei Foodora aktive Betriebsräte. Deshalb gründeten die Angestellten bis zur Übernahme gezielt weiter Betriebsräte, so der Darmstädter Soziologe Heiner Heiland, der zu diesem Thema forscht: „Vor allem ging es erstmal um ein Überleben des schon existierenden Betriebsrats.“ Beeilt hätten sie sich wegen der Unklarheit, was nach der Übernahme kommen würde.

Deutschlandkarte mit Orten, an denen es Lieferando-Service und an denen es Betriebsräte gibt.
Orange sind Orte mit Lieferando-Service, Blau sind Städte mit Betriebsräten, die zwei Kreise sind die beiden Regional-Betriebsräte. - CC-BY-SA 4.0 netzpolitik.org

So entstanden noch unter Foodora Betriebsräte in Köln, Stuttgart, Nürnberg, Frankfurt/Offenbach, ein gemeinsamer Betriebsrat Nord für Kiel, Hamburg, Bremen, Hannover und Braunschweig und ein Gesamtbetriebsrat. Diese Gründungen liefen nicht ohne Schwierigkeiten ab, in Münster landete sie zum Beispiel vor Gericht. Die Frage, um die es letztlich ging: Durften die Angestellten in Münster das überhaupt? Denn Foodora hatte in Münster keine Niederlassung und argumentierte deshalb, es gebe den Betrieb nicht, den es für einen Betriebsrat braucht.

Damals wurde das Verfahren wegen eines Formfehlers eingestellt. „Das war für uns nicht der symbolische Ausgang, den wir erhofft haben“, so die Münsterer Betriebsrätin Carlotta Rollecke im Gespräch mit netzpolitik.org. Die Mitarbeiter*innenlisten, die man für eine Wahl braucht und um die in dem Verfahren gestritten wurde, bekam der Betriebsrat aber trotzdem.

Im April 2019 fusionierten Lieferando und Foodora dann. Die Fahrer*innen trugen nun alle Orange, benutzten dieselben Apps und lieferten für die gleichen Restaurants. Trotzdem vertraten die Betriebsräte laut Lieferando weiter nur die alten Foodora-Fahrer*innen. Die Argumentation: Foodora sei immer noch ein eigenes Unternehmen, denn die zugehörige GmbH war immer noch weiter im Handelsregister eingetragen.

Um diese – ihrer Meinung nach unberechtigte – Trennung zu umgehen, traten die Mitglieder des Kölner Betriebsrats geschlossen zurück. Sie waren damit weiter im Amt, konnten aber eine Neuwahl im Sommer 2020 ansetzen, diesmal für alle Fahrer*innen in Köln.

Da hatte nun Lieferando offenbar etwas dagegen. Laut Betriebsräten, mit denen netzpolitik.org sprach, wollte das Unternehmen statt lokaler Organisationen für einzelne Städte lieber große, regionale Betriebsräte. Die sollten um die wenigen festen Niederlassungen mit Büros und Fahrrädern – Hubs – herum angeordnet und auch für umliegende Orte verantwortlich sein. Warum? Das wäre aus den Zentralen in Berlin oder Amsterdam einfacher zu überblicken gewesen, so die Vermutung.

Nach Angaben mehrerer Betriebsräte übte das Unternehmen dafür auch Druck aus. Während der Verhandlungen für die Übernahmen der Foodora-Betriebsräte habe das Unternehmen den Betriebsrat in Münster aufgefordert, bei seiner Neuwahl die Angestellten in Osnabrück und Bielefeld ebenfalls einzubeziehen. Ansonsten würde man die für die Wahl notwendigen Mitarbeiter*innenlisten nicht zur Verfügung stellen und die Wahl auch anfechten. Das Mutterunternehmen Takeaway antwortete nicht auf eine Anfrage von netzpolitik.org zu diesem Thema.

„Wir befanden uns mitten in der Pandemie, es gab so viele Baustellen“, so die Münsterer Betriebsrätin Roellecke. Zum Wohle der Belegschaft habe der Betriebsrat zuerst Gespräche mit den Fahrer*innen in den beiden anderen Städten geführt und dann einer gemeinsamen Wahl zugestimmt. „Wir haben nicht die Frankfurter Route gewählt, die viel über Gerichte geht.“

Gegen Lieferando klagen: Nur mit Zustimmung von Lieferando

In der Tat liefen zu dieser Zeit schon mehrere Gerichtsverfahren zwischen Lieferando und Betriebsräten, besonders in Köln und Frankfurt. Anscheinend war es aus Unternehmenssicht Zeit für ein Friedensangebot: Im Frühjahr 2020 bestellte Lieferando seine Betriebsräte zu einer Konferenz im Kölner Hotel Maritim. Im großen Saal des Hotels pitchten hohe Firmenvertreter*innen ihre Idee eines „Cooperation Agreement“, das beide Seiten unterzeichnen sollten. Ein Entwurf dieses Dokumentes liegt netzpolitik.org vor.

Darin ging das Unternehmen eine ganze Menge an Baustellen an: Gehaltsstrukturen, Organisation, IT-Systeme, Schichtplanungen. Zu allen diesen Themen, so sah es das Agreement vor, sollten Betriebsräte und Unternehmensvertreter gemeinsam Workshops durchführen. Direkt nach dem Abschluss der Verhandlungen sollte dann, und das war der Clou, der Gesamtbetriebsrat über die Vereinbarungen abstimmen.

Nun ist aber im Gesetz nicht vorgesehen, dass ein Gesamtbetriebsrat über die Köpfe der lokalen Betriebsräte hinweg solche Abmachungen schließt. Die sollten deshalb, so Lieferando, „vorsorglich etwaig bestehende Zuständigkeiten“ an den Gesamtbetriebsrat delegieren – also das Gegenteil der möglichst lokalen Entscheidungen, für die sich viele der Betriebsräte von Anfang an eingesetzt hatten.

Dann sollten die Betriebsräte, ebenfalls vorsorglich, dem Unternehmen den Einsatz verschiedener IT-Systeme erlauben. Bei Entscheidungen über solche Systeme muss ein Betriebsrat zum Schutz von Persönlichkeitsrechten einbezogen werden. Wenn ein Unternehmen ohne Mitbestimmung IT-Systeme einführt, stehen Betriebsräten vor Gericht mächtige Instrumente dagegen zur Verfügung. Solche Gerichtsverfahren, so das Agreement, sollten die Betriebsräte in Zukunft aber „nur nach vorheriger Konsultation und Zustimmung von Takeaway Express einleiten“ können.

Jogi Löw bei der Fußball-EM vor einem Werbebanner mit Lieferando-Aufschrift
Lieferando machte auch Werbung bei der Fußball-EM. - Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Team 2

Schließlich sollten, da die „angestrebten Verhandlungen zeit- und arbeitsintensiv sein werden“, „die vorhandenen Ressourcen gebündelt und auf die zu verhandelnden Themen konzentriert werden“. Für Lieferando hieß das wohl: Alle laufenden Gerichtsverfahren zwischen den beiden Seiten sollten eingestellt werden.

Laut Gesprächen mit Betriebsräten, die bei dem Treffen anwesend waren, kam ihre völlige Ablehnung des Agreements für Lieferando überraschend. „Man muss grenzdebil sein, um sowas zu unterzeichnen“, so der Frankfurter Betriebsrat Philipp Schurk. Keiner der eingeladenen Betriebsräte unterzeichnete. Ein Sprecher von Just Eat Takeaway, der Mutterfirma von Lieferando, äußerte sich auf Anfrage von netzpolitik.org auch zu diesem Thema nicht.

Klagen und Polizei bei Wahlen in Köln

Ebenfalls im Frühjahr 2020 fuhr Lieferando in Köln ein ganzes Instrumentarium auf, um die Neuwahl der etwa 380 Kölner Angestellten zu behindern, wie die taz berichtete. Der Betriebsrat musste erst klagen, bis Lieferando Mitarbeiter*innenlisten herausrückte. Dazu ein kleiner Ausschnitt aus dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln, das netzpolitik.org vorliegt:

Der Prozessbevollmächtigte der Arbeitgeberin hat im Anhörungstermin gerügt, die Beschwerdekammer berücksichtige nicht hinreichend die Interessen der Arbeitgeberin. Auf Nachfrage, welche Interessen er konkret meine, äußerte er lediglich, ‚die Betriebsratswahl solle jetzt nicht stattfinden‘. Vor Mitbestimmung bewahrt zu werden, ist nach den Maßstäben des BetrVG [Betriebsverfassungsgesetz] aber kein schützenswertes Interesse der Arbeitgeberin und daher nicht berücksichtigungsfähig.

„Der Arbeitgeber hat alle Informationen zur Verfügung gestellt, die er nach Gesetzeslage bereitstellen darf. Dies ist erfolgt, was schon die Durchführung der Wahlen zeigt“, so Just Eat Takeaway zu netzpolitik.org.

Dann stellten drei Kölner Lieferando-Angestellte eine arbeitgebernahe Wahlliste auf – und diese durfte im Gegensatz zu den gewerkschaftsnahen Kandidat*innen Werbung über den internen Mailverteiler machen. Am Wahltag mussten Angestellte sogar die Polizei rufen, um einen der arbeitgebernahen Kandidaten vom Wahllokal entfernen zu lassen. Laut Betriebsrat Schurk hatte dieser ihm Prügel angedroht; der Angestellte, ranghöchster Lieferando-Mitarbeiter im Kölner Hub, wies das zurück.

Ein Mitglied der gewerkschaftsnahen Liste stellte daraufhin Strafanzeige wegen Wahlbehinderung, was die Staatsanwaltschaft Köln gegenüber netzpolitik.org bestätigt. Der Antrag wurde aber zurückgenommen, nachdem die gewerkschaftsnahe Liste mit 72 zu 65 Stimmen die Wahl gewonnen hatte.

„Betriebsratswahlen sind demokratische Wahlen. Daher dürfen alle Mitarbeiter eigene Wahllisten aufstellen, ausgenommen leitende Angestellte“, so Just Eat Takeaway. „Die Kandidatur anderer Kolleginnen oder Kollegen als störende Konkurrenz zu betrachten, widerspricht den demokratischen Grundsätzen von Betriebsratswahlen. Lieferando.de unterstützt jedenfalls gleichermaßen jede zur Wahl gestellte Liste, im Interesse der Gleichbehandlung.“

Datenschutz spricht nicht gegen Briefwahlen

Ähnlich verlief die Wahl in Frankfurt, wo Lieferando laut Betriebsratsangaben Anfang des Jahres 700 bis 800 Angestellte hatte. Auch hier musste der Betriebsrat klagen: In der ersten Instanz ordnete das Gericht sogar eine einstweilige Verfügung gegen Lieferando an, um an die Mitarbeiter*innenlisten heranzukommen. Der Fall ging dann trotzdem in die zweite Instanz, also ans Landesarbeitsgericht Hessen. Dabei ging es um die Postadressen der Angestellten, die der Wahlvorstand für die Zusendung von Briefwahlunterlagen brauchte. Lieferando argumentierte: Die Adressen könnten nicht herausgegeben werden, weil das gegen den Datenschutz verstoßen würde.

Auch hier stellte sich das Gericht auf die Seite des Betriebsrats und ordnete die Herausgabe der Adressen an, das Urteil liegt netzpolitik.org vor. „Entgegen der Auffassung des Arbeitgebers bestehen hinsichtlich der Mitteilung der Adressen keine datenschutzrechtlichen Bedenken“, heißt es in dem Urteil vom August 2020. Außerdem wird darin unter anderem „das nicht kooperative Verhalten des Arbeitgebers gegenüber dem Wahlvorstand“ bemängelt.

Aus dem Urteil geht auch hervor, dass Lieferando einem Teil der Arbeitnehmer den Zutritt zu seinem Hub verweigerte, weshalb die Wahl nicht dort abgehalten werden konnte – laut dem Gericht ein weiterer Grund, weshalb die Herausgabe der Adressen nötig war.

Der „Frankfurter Frieden“

Damit ging die Auseinandersetzung aber nur in die nächste Runde. Wie beim Urteil am Landesarbeitsgericht schon erahnbar, flatterte im September die formelle Anfechtung der Wahl durch Lieferando ein. Damit kann im Nachhinein eine Neuwahl erzwungen werden.

Der Frankfurter Betriebsrat habe die Angestellten aus nahen Städten ohne Hub nicht mit in die Wahl einbezogen, so Just Eat Takeaway auf Anfrage von netzpolitik.org. „Wir werden diese Frage im Vorfeld der nächsten regulären Neuwahlen im Frühjahr 2022 wieder mit unseren Betriebsräten erörtern.“

Zur gleichen Zeit habe es aber ein Umdenken bei Lieferando gegeben. „Nicht, weil sie nett waren, sondern weil sie gesehen haben, dass sie so nicht weiterkommen“, berichtet der Frankfurter Betriebsrat António Fernandes Coelho. „Da sitzt nicht Darth Vader. Irgendwann musst du anfangen zu sprechen. Wir haben versucht, in so eine Art Kalter Krieg zu kommen, davor waren das eher barbarische Zustände.“

Zumindest wird der Kennenlernprozess zwischen Betriebsrat und Unternehmen zunächst nicht mehr vor Gericht ausgetragen. Eigentlich sollte am 25. März ein Anhörungstermin in der Anfechtung des Frankfurter Betriebsrats stattfinden – aber drei Tage davor kündigte Lieferando an, man würde die Anfechtung zurücknehmen. Das geschah dann auch am Tag vor der Anfechtung, wie das Arbeitsgericht Frankfurt netzpolitik.org gegenüber bestätigte.

„Im Zuge einer aufrichtigen Zusammenarbeit und einer Arbeit auf Augenhöhe möchte ich euch darüber informieren, dass wir die Anfechtung der Betriebsratswahl in Frankfurt zurück nehmen werden. Vielen Dank an euch alle für die verbesserte Zusammenarbeit“, heißt es in einer Mail, die netzpolitik.org vorliegt. Darin ist die Rede vom Anfang des „Frankfurter Friedens“.

Zumindest in Nordrhein-Westfalen scheint dieser Frieden geachtet zu werden. „Mit uns wurde ordentlich zusammengearbeitet“, so Florian Neuß, Betriebsrat in Dortmund. Dort haben 145 Angestellte von Lieferando im Juni gewählt. „Bisher können wir von keinerlei Gegenwind seitens Lieferando berichten, wissen jedoch von anderen Betriebsräten, dass es in deren Städten anders ablaufen kann.“

„Allgemein haben wir aber auch den Eindruck, dass Lieferando lernfähig ist und die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen möchte. Was natürlich keine Garantie ist, dass es nicht doch passiert. Bleibt zu hoffen, dass der Weg weiterhin positiv gestimmt ist.“

Kritik besteht weiter – auch international

Christoph Schink, bei der Gewerkschaft NGG Referatsleiter für Gastgewerbe und damit für Lieferando zuständig, ist kritischer: „Ich nehme das nicht als verbessert wahr“, so seine Reaktion auf die Frage, ob sich die Zusammenarbeit mit Lieferando verbessert habe.

Ähnlich Coelhos Frankfurter Betriebsratskollege Schurk: „Auf gar keinen Fall“, antwortet er auf die gleiche Frage. „Man kommt überhaupt nicht in die Lage, mit einer Person zu sprechen, die als Arbeitgebervertretung bezeichnet werden kann. Es geht nicht darum, dass man uns informiert, es geht darum, dass wir mitmachen.“ Aber: „Dass es vielleicht zarte Knospen eines Umdenkens gibt, das sehe ich schon“, sagt er im Gespräch mit netzpolitik.org.

Auch das Fairwork-Projekt der Universität Oxford, dass Arbeitsbedingungen bei Tech-Unternehmen untersucht, vergibt schlechte Noten. Im Jahresbericht für 2020 bekam Lieferando im Bereich „Faire Mitbestimmung“ null von zwei möglichen Punkten. „Im Fall von Lieferando konnten wir keine umfassenden Beweise finden, dass die Vereinigungsfreiheit nicht eingeschränkt wird und dass Angestellte auf keine Weise dafür benachteiligt werden, ihre Bedenken, Wünsche und Forderungen an die Plattform zu kommunizieren“, so das Deutschland-Team auf Anfrage von netzpolitik.org.

Und das nicht nur für Deutschland. Zwar habe Just Eat Takeaway in den letzten Jahren versucht, zur Abgrenzung von seinen Rivalen angestelltenfreundlich zu wirken. Aber: „Zur gleichen Zeit haben wir Fälle von Vorgehen gegen Gewerkschaften gesehen, die den Praktiken in Deutschland ähneln. In Israel gab es zum Beispiel Berichte über gewerkschaftsfeindliche Praktiken der Just Eat Takeaway-Tochter 10bis. Es ist also wichtig, öffentliche Abkommen und Vereinbarungen kritisch zu bewerten, indem man die Dynamiken der Gewerkschaftsfeindlichkeit in der Plattformökonomie sorgfältig analysiert.“

Der Fall Darmstadt

Im nur 30 Kilometer von Frankfurt entfernten Darmstadt wurde im September 2020 ein neues Fass aufgemacht, gerade, als in Frankfurt die Anfechtung des Betriebsrats begann. Drei Darmstädter Lieferando-Angestellte beriefen einen Wahlvorstand ein und begannen damit den langen, bürokratischen Weg zur Betriebsratswahl. „Mit Problemen konnte man sich nur an Frankfurt wenden“, erzählt einer von ihnen netzpolitik.org. Er möchte anonym bleiben. „Wenn ich als Fahrer eine Sprechstunde haben wollte, konnte ich nach Frankfurt fahren – unbezahlt.“

Bei der Wahl spielte Lieferando wieder nicht mit, mit vertrauten Argumenten: Die Kontaktdaten der Fahrer*innen könnten dem Wahlvorstand nicht übergeben werden, weil das gegen den Datenschutz verstoßen würde. Wohlgemerkt hatte das Hessische Landesarbeitsgericht dieser Argumentation für Frankfurt schon widersprochen. Ein Sprecher von Takeaway antwortete nicht auf eine Anfrage von netzpolitik.org, warum das Unternehmen das Argument in Darmstadt noch einmal vorbrachte.

Stattdessen mussten die Benachrichtigungen zur anstehenden Wahl zuerst an Lieferando geschickt werden, das Unternehmen schickte sie dann über den internen Mailverteiler. Bei der Wahl im Januar verschickte der Wahlvorstand 65 Briefe, knapp die Hälfte der Leute habe mitgemacht.

„Das wir überhaupt zweistellig wurden, hat mich sehr gefreut“, so der dabei gewählte Darmstädter Betriebsrat. Was dann kam, sei aber schon vorher angekündigt worden, sagt er: Zuerst brauchte es fünf Tage, bis Lieferando die Ergebnisse per Mailverteiler bekannt gab. Und dann flatterte, wie in Frankfurt, die Anfechtung der Wahl ein.

Betriebe ohne Betriebsstätte?

Lieferandos Begründung dafür ist die Ursache, warum das noch laufende Gerichtsverfahren jetzt so aufmerksam beobachtet wird. Denn Darmstadt hat im Gegensatz zu Köln, Frankfurt, Dortmund und allen anderen Städten, in denen es bisher bei Lieferando Betriebsräte gibt, keinen Lieferando-Hub.

Das heißt aus Sicht von Lieferando, dass in Darmstadt kein Betriebsrat gegründet werden kann. Denn dazu bräuchte es eine Betriebseinheit, eben einen Hub, und der sei in Darmstadt nicht gegeben. „In ihrem Darmstädter Liefergebiet hat die Takeaway Express GmbH keinen selbstständigen Betrieb und keine Angestellten mit Leitungsfunktion für personelle und soziale Belange. Betriebsstandort mit entsprechendem Personal und einem bestehenden Betriebsrat ist Frankfurt am Main“, so ein Sprecher des Unternehmens.

„Die Takeaway Express GmbH hat gegenüber den Darmstädter Wahl-Initiatoren von Beginn an offen und transparent darauf hingewiesen, dass im Zweifel ein Gericht entscheiden muss, ob die Wahl eines zusätzlichen Betriebsrats für nur das Darmstädter Liefergebiet rechtskonform wäre“, sagte er zu netzpolitik.org. „Dieses Verfahren läuft derzeit und wir warten dessen Entwicklung ab. Im Interesse aller Beteiligten wäre es zu begrüßen, wenn der Betriebsrat Frankfurt a.M. auch die Verantwortung für die Fahrer aus Darmstadt übernähme.“

Das sehen nun wiederum die Betriebsräte anders. „Ich denke, dass das dann ein Betrieb sein muss“, so der Frankfurter Betriebsrat Schurk zu netzpolitik.org. Er sieht Darmstadt aber nicht als Einzelfall, sondern als Vorstoß: „Wir brauchen eine Novellierung unserer Definition von Betrieb, die von der Betriebsstätte abgekoppelt ist.“

Das sei ein Schritt mit wichtigen Konsequenzen, so die Fairwork Foundation auf Anfrage von netzpolitik.org. Geografie gegen die Angestellten zu nutzen, sei eine häufige Strategie in der Plattformwirtschaft. „Durch die Möglichkeit, in allen Städten, in denen das Unternehmen tätig ist, Betriebsräte zu gründen, könnten die Angestellten vielleicht mehr kollektive Kraft aufbauen, um für ihre Rechte zu kämpfen.“

Normale Betriebsratsarbeit

Zumindest bis die Verhandlungen vorbei sind, gibt es den Betriebsrat in Darmstadt. Er besteht momentan aus fünf Leuten und einem Ersatzmitglied. Für die Betriebsratsarbeit freigestellt ist keiner davon, alle arbeiten als Fahrer*innen weiter. Sie kümmern sich um die ganz praktischen Probleme der Fahrer*innen – und dabei funktioniert die Zusammenarbeit mit Lieferando eigentlich gut, sagt einer der Betriebsräte. So habe man bei der Berliner Zentrale eine Fahrradpumpe angefordert und auch bekommen.

Der Betriebsrat verschickt jetzt Infomails über den internen Mailverteiler. Die seien schon hilfreich, so ein Darmstädter Lieferando-Fahrer im Gespräch mit netzpolitik.org, er persönlich brauche sie aber eigentlich nicht. Trotzdem fände er es nicht gut, wenn es nur in Frankfurt einen Betriebsrat gebe: „Frankfurt kann nicht entscheiden, was in Darmstadt sein soll.“

Die Verhandlungen vor dem Arbeitsgericht Darmstadt laufen währenddessen weiter, am 26. August soll öffentlich über die Anfechtung entschieden werden. Wie dabei die Chancen stehen? „Bewertet man den tatsächlichen Tatbestand, würde ich sagen, ist das vollkommen 50/50“, so der Darmstädter Betriebsrat.

Er hat aber noch ein anderes Anliegen: „Mir geht es auch darum, dass die anderen Städte und Kollegen in anderen Unternehmen Wind davon bekommen, dass so ein Betriebsrat eben keine örtliche Arbeitsstätte oder eine Leitung vor Ort braucht.“


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