Ein achtjähriges Mädchen hüpft fröhlich im Garten herum, springt im Bikini in den Pool, erzählt ihren YouTube-Fans im Badezimmer, welches Shampoo sie benutzt, und wickelt sich in ein Handtuch. Das Video zu ihrer „Abendroutine“ ist schon fünf Jahre alt, inzwischen hat es 2,5 Millionen Aufrufe. Das jetzt 13-jährige Mädchen mit den langen blonden Haaren tanzt mittlerweile auch bei TikTok vor ihren 82.000 Abonnent:innen. Bei einem elfjährigen Jungen sind es gar 240.000 Abonnent:innen, die diesem bei YouTube zuschauen, wie er Spielzeug testet, als Soldat verkleidet Militäressen probiert oder mit seiner jüngeren Schwester „Wasserbomben-Challenges“ macht.
Das sind nur zwei Beispiele von deutschen Kinder-Influencer:innen, die Alicia Joester fassungslos machen. Sie selbst ist auf YouTube und Instagram mit Videos erfolgreich, in denen sie sich schminkt oder Klatsch und Tratsch aus der Medienwelt kommentiert. Dafür schaut sie sich vieles an, was bei YouTube gerade trendet.
Vor einigen Wochen war da dann das Video einer bekannten Blogger-Familie beim Schwimmen im Pool. „Da waren sämtliche Szenen, in denen das Kind leicht bekleidet im Bikini abgefilmt wird. Ich habe mir gedacht: Das geht doch gegen alles, was ich mal über Persönlichkeitsrechte gelernt habe.“ Alicia Joester begann zu recherchieren und veröffentlichte zwei Videos auf ihrem Kanal, zunächst zu Familienbloggern.
Wenig später veröffentlichte sie ein zweites Video mit dem Titel: „Kinderinfluencer: Zu jung, zu fame, zu freizügig?“. Es sind Grenzüberschreitungen von Kinderrechten, des Daten- und des Jugendarbeitschutzes, die täglich in Form von unzähligen bunten, lustigen oder niedlichen Videos und Fotos stattfinden. Dass diese Grenzüberschreitungen geschehen, ist offenbar weniger eine Folge fehlender Regeln, sondern fehlenden Wissens und Nicht-Wissen-Wollens der Zuständigen.
Die Videos wurden in einem Ausmaß geklickt, geteilt und kommentiert, mit dem sie nicht gerechnet hätte. „Aber mir war schon bewusst, dass da seit längerer Zeit was brodelt, weil immer mehr grenzüberschreitende Sachen passieren“, so Joester gegenüber netzpolitik.org.
Altes Phänomen mit neuer Dynamik
Luise Meergans vom Deutschen Kinderhilfswerk beobachtet die Entwicklungen rund um Kinder-Influencer:innen – manchmal auch „Content Creators“ genannt – schon seit etwa fünf Jahren. Sie spricht von einer „neuen Dynamik“. Das erfolgreichste Kinder-Influencing-Video eines Jungen aus den USA hat mittlerweile zwei Milliarden Aufrufe, in Deutschland liegt das erfolgreichste bei immerhin 73 Millionen Klicks. „Da kommt hierzulande so schnell auch niemand dran. Aber es gibt unzählige, insbesondere junge Mädchen, die im gut sechsstelligen Abonnent:innen-Bereich auf YouTube oder Instagram unterwegs sind“, so Meergans.
Mittlerweile seien die Hürden noch niedriger geworden, sich im Internet zum Star zu machen. Bei TikTok und Instagram kurze Videos hochzuladen ist im Vergleich zum Schneiden von langen YouTube-Videos wesentlich unkomplizierter.
Da die Plattformen ein Mindestalter von 13 Jahren für ihre Nutzer:innen vorschreiben, handelt es sich oft um Familienkanäle, die von den Eltern betreut werden. Wenn die Kinder als Protagonist:innen des Kanals vor der Kamera auftreten, müssten sie jedoch an Entscheidungen beteiligt werden, sagt Luise Meergans. Sie bezieht sich damit auf die UN-Kinderrechtskonvention.
„Wenn ich ein fünfjähriges Kind frage, ob ich ein Video von ihm ins Internet stellen darf, muss man aber natürlich hinterfragen, ob es überhaupt einschätzen kann, was das bedeutet.“ Schließlich ergebe sich aus der Abhängigkeit eines Kindes von seinen Eltern ein natürlicher Kooperationswille. „Dann lässt sich das Kind vielleicht auch gerne filmen, weil es dafür Anerkennung von den Eltern bekommt.“
Und warum wollen die Eltern ihre Kinder vor die Kamera bringen? In einigen Fällen auch, weil sich damit gut Geld verdienen lässt. Alicia Joester kennt das Geschäft mit Werbung auf YouTube und Instagram. „Man kann das nicht pauschalisieren, aber wenn eine Person 100.000 Abonnent:innen hat und es richtig angeht, kann sie davon in der Regel leben“, meint Joester. Gerade bei Kinder-Inhalten sei die Zielgruppe so spezifisch, dass die Kanäle besonders interessant für Werbekunden seien.
Ab wann ist es Kinderarbeit?
Die Eltern von Miley, die den reichweitenstarken Kanal „Mileys Welt“, ehemals „CuteBabyMiley“, und einige andere Kanäle führen, geben offen an, dass die Familie davon lebt. Für Luise Meergans ist das aber gar nicht das Kriterium, um von Kinderarbeit zu sprechen. „Ab dem Moment, ab dem ein Kind einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, ist das Kinderarbeit“, sagt Meergans. Normalerweise dürfen Kinder unter 15 Jahren oder schulpflichtige Kinder in Deutschland nicht arbeiten – doch es gibt Ausnahmen.
Der Fall von Miley ist offenbar von einer solchen Ausnahmeregelung des Jugendarbeitschutzgesetzes gedeckt. Unter strengen Kontrollen von Jugendamt und Arbeitsschutz-Behörden dürfen Kinder an Theatervorstellungen, Werbeveranstaltungen oder Hörfunk-, Film- und Fotoaufnahmen mitwirken. Je nach Alter darf dabei eine bestimmte Stundenzahl pro Woche nicht überschritten werden.
In einem langen Statement unter dem Titel „negative Presse“ erklärt die Familie von Miley, dass sie in Absprache mit dem Kinderarzt, der Schule, dem Jugend- und dem Gewerbeamt jährlich eine Dreherlaubnis bekomme. „Laut unserer Erkenntnis sind wir bis heute der einzige YouTube Kanal mit Kind vor der Kamera, der sich damit an alle Gesetze und Bestimmungen hält“, heißt es dort.
Viele Ämter fühlten sich gar nicht zuständig, sagt Luise Meergans. „Sie haben das Thema Kinder-Influencing nicht auf dem Schirm.“ Man könne darüber nachdenken, Arbeitsfelder wie Influencing explizit in das Jugendarbeitsschutzgesetz aufzunehmen. Eigentlich gebe es jedoch passende Gesetze, aber die Umsetzung bleibt oft aus.
Auf Anfrage von netzpolitik.org bestätigt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales: „Die Regelungen des Jugendarbeitschutzgesetzes können auch auf Tätigkeiten von Influencern im Kinder- und Jugendalter angewendet werden.“ Die Überwachung und Einhaltung des Gesetzes sei jedoch Aufgabe der Bundesländer.
„Es ist somit Aufgabe der zuständigen Landesbehörde, zu prüfen, ob das Jugendarbeitschutzgesetz im jeweiligen Fall Anwendung findet und ob die Bestimmungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen Rechnung getragen wird“, so das Ministerium weiter.
Werbung mit Babyfotos: eine Regelungslücke
Dass diese Gesetze wirklich alles abdecken, sieht Cornelia Holsten nicht. Sie ist Direktorin der bremischen Landesmedienanstalt (brema) und damit für Werbekennzeichnung und Jugendmedienschutz zuständig. „Die Ausnahmen gelten nur für über Dreijährige, denn der Gesetzgeber ist offenkundig davon ausgegangen, dass unter Dreijährige nicht arbeiten“, so Holsten. Ihrer Meinung nach stimmt das aber in der Welt der sozialen Netzwerke nicht mehr.
„Die Kinder-Influencer:innen der ersten Stunde sind mittlerweile selbst Eltern geworden“, erklärt Holsten. Seitdem sind die Instagram-Kanäle dieser Influencer:innen neben Bildern von sich selbst auch voller Babyfotos. Zusätzlich tauschen sich unzählige junge Eltern auf sogenannten Mamablogger-Kanälen über Schwangerschaftssorgen, die besten Babyfläschchen oder die ersten Schritte ihrer Kinder aus.
„Die Werbepostings von Influencer:innen mit Babys werden häufig nicht einfach Zufalls-Schnappschüsse sein, sondern mit viel Aufwand betrieben, denn sie sollen ja schließlich den Zweck erfüllen, Produkte zu vermarkten“, so Holsten. „Das führt zu einer Kommerzialisierung der Kindheit“, sagt sie.
Netzpolitik.org hat etwa 20 unterschiedlich große Kanäle, auf denen Kinder zu sehen sind und gleichzeitig Produkte beworben werden, nach einer Stellungnahme gefragt. Reaktionen kamen von den wenigsten – wenn doch, dann hieß es etwa: „Danke für deine Nachricht. Aber ich habe da kein Interesse dran.“ Oder von einem Kanal, auf dem fast jedes Bild ein Kind zeigte, manchmal aber von hinten: „Ich zeige die Kinder ja nicht wirklich. Höchstens mal von der Seite oder ohne, dass ihr Gesicht richtig erkennbar ist. Ich bin nämlich auch nicht dafür, die Kinder für Werbezwecke einzusetzen.“
Gesprächsbereit zeigte sich nur Janine, die aber weder ihren Nachnamen noch den Namen ihres Kanals an dieser Stelle lesen möchte, um keine negative Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie tauscht sich mit ihren gut 4.500 Abonennt:innen und dem Rest des Internets über das Leben mit Baby aus, dafür zeigt sie auch das Gesicht ihrer Tochter erkennbar. Von einer Kommerzialisierung ihres Kindes könne nicht die Rede sein, sagt sie. „Ich bekomme höchstens mal was zugeschickt, aber ich verdiene damit kein Geld. Wenn ich Werbung für irgendetwas mache, dann steht meine Tochter nicht so im Zentrum des Bildes“, erklärt Janine.
Zu viele zu fließende Grenzen
Die brema-Direktorin Cornelia Holsten sieht es bereits kritisch, wenn Kleinkinder mit Gesicht, Namen oder Adresse auf einzelnen Beiträgen eines Kanals vorkommen, in denen nicht direkt ein Produkt beworben wird, der Kanal aber allgemein eine Werbeabsicht hat. Schließlich sind auf Instagram nicht nur die Grenzen zwischen privat und gewerblich fließend, sondern auch die Rolle der Influencer-Eltern. „Problematisch wird es, wenn sie die Doppelfunktion zwischen Fürsorgenden und Auftraggeber:innen aus welchen Gründen auch immer nicht gut übereinbekommen.“
Diese Doppelfunktion ist auch der Grund, weshalb Luise Meergans einen entscheidenden Unterschied zwischen der Arbeit von minderjährigen Schauspieler:innen und minderjährigen Influencer:innen sieht. „Die Eltern müssen als Erziehungsberechtigte ihr Einverständnis geben, gleichzeitig sind sie aber die Auftraggeber, die es dem Gewerbeamt melden müssen“, so Meergans. Ähnlich verschwommen sind die Grenzen beim Arbeitsort. Es gibt kein Fernsehstudio, gefilmt wird im privaten Raum. In manchen Fällen bedeutet das: in der Badewanne, auf dem Zahnarztstuhl oder beim Schlafen im Kinderbett.
Wenn Tausende oder sogar Millionen Menschen in das Kinderzimmer schauen, ist die Privat- wenn nicht sogar die Intimsphäre der Kinder betroffen. In vielen Fällen lassen sich mit wenigen Klicks viele persönliche Daten wie Vor- und Nachname, Geburtsdatum, Wohnort, manchmal sogar die Schule der Kinder herausfinden. Darüber spricht auch Alicia Joester in ihrem Video. „Die Kinder sind als gläserner Mensch im Internet, ohne überhaupt davon zu wissen“, das habe sie bei ihrer Recherche am meisten erschrocken.
Plattformen in der Kritik
Plattformen wie TikTok stehen für ihren Umgang mit Kindern regelmäßig in der Kritik. Konkurrent Facebook löste einen Sturm der Empörung mit Plänen aus, ein Instagram für Kinder zu starten.
YouTube hat mittlerweile bei Videos, in denen hauptsächlich Kinder zu sehen sind, die Kommentarfunktion deaktiviert. Dies geschah nachdem 2019 bekannt wurde, dass ein Ring Pädosexueller in den Kommentarspalten Zeitstempel postete, die sich auf Stellen in den Videos bezogen, in denen Kinder in bestimmten Körperhaltungen oder in Unterwäsche zu sehen waren.
Um jedes Risiko vorzubeugen, dass Bilder missbräuchlich verwendet werden, müsste man Kinder vermutlich ganz aus dem Internet verbannen. Eine Datenrecherche des NDR deckte kürzlich auf, dass auch ganz gewöhnliche Alltagsbilder ohne viel nackte Haut auf Plattformen von Pädosexuellen landen.
Kinder völlig aus dem Digitalen zu verbannen kann aber keine Lösung sein, da sind sich Kinderrechtlerin Luise Meergans und Cornelia Holsten von der Landesmedienanstalt einig. Warum Influencer:innen ihre Kinder im Internet zeigen wollen, kann Holsten sogar ein Stück weit nachvollziehen. „Dieses Elternglück, das sie mit der ganzen Welt teilen möchten, ist ja verständlich.“ Ihrer Meinung nach wäre es aber sinnvoll, das Zeigen der Gesichter von Babys zu vermeiden.
Warum Mamabloggerin Janine sich dafür entschieden hat, dabei ihr Baby mit Gesicht erkennbar zu zeigen? „Ich sage mal so: wir haben uns einfach nicht dagegen entschieden“, verrät sie netzpolitik.org. Außerdem gebe es gewisse Grenzen. „Ich würde meine Tochter nicht halbnackt, in Windel, wenn sie sich in die Hose gemacht hat oder solche Dinge zeigen“. Und sie schließt auch nicht aus, ihre Entscheidung irgendwann noch einmal zu ändern und das Kind nicht mehr zu zeigen.
Ständiges Feedback durch Likes und Kommentare
Alicia Joester, die selbst Influencerin ist, kann auch bei den minderjährigen Teenager-Influencer:innen nachvollziehen, worin der Reiz besteht, sich auf TikTok und Instagram zu präsentieren.
„Sich zu profilieren, anderen zu zeigen, wie toll das eigene Leben ist – das sind ja auch Gründe, weshalb Privatpersonen Social Media nutzen.“ Wenn dann auch noch Erfolg, Ansehen und leicht verdientes Geld dazu kommen, hinterfrage man negative Konsequenzen unter Umständen nicht mehr.
Doch Alicia Joester kennt auch die Schattenseiten des Influencer:innen-Daseins. „Das geht immer mit einer gewissen Art von Druck einher: in Form von Likes, Kommentaren, Aufrufzahlen und Rankings, die YouTube erstellt.“ Selbst bei Erwachsenen könne das langfristig auf die Psyche schlagen, sagt Joester. „Dein Erfolg ist automatisch an die Frage geknüpft: Wieviel bin ich als Mensch wert?“ Und das Feedback aus den sozialen Netzwerken kommt permanent, ohne Pause und ohne Feierabend.
Hinzu komme bei jungen Kindern, dass sie noch nicht unterscheiden können, was Privatsphäre, was Intimsphäre und was Schamgefühl ist, sagt Luise Meergans vom Deutschen Kinderhilfswerk. „Ein Kind muss lernen, wo die Grenze zwischen dem Kind vom YouTube-Kanal und der eigenen Persönlichkeit verläuft“, so Meergans.
Aufklärung statt Verbote
Womöglich beeinträchtige es die Identitätsfindung von Kindern, wenn sie früh Protagonist:innen eines großen Social-Media-Kanals sind. Doch es gebe keine Studien zur entwicklungspsychologischen Auswirkung von Influencing bei Kindern. „Man kann sich immer allgemein auf die ‚gefallenen‘ Kinderstars beziehen, aber für diesen speziellen Bereich brauchen wir dringend Forschung“, sagt Meergans.
„Das Internet ist ein gesellschaftspolitischer Raum und als Kinderrechtsorganisation sind wir selbstverständlich dafür, dass Kinder in jedem gesellschaftspolitischen Raum sichtbar sind“, so Meergans. „Die Frage ist nur: wie?“ Kinder müssten lernen, welche Gefahren, aber auch welche Möglichkeiten zur Beteiligung an gesellschaftlichen Diskursen sich durch soziale Netzwerke bieten. „Aber es ist wichtig, dass Erwachsene das begleiten. Das ist eine Aufgabe der Eltern, der Anbieterplattformen und der Politik“, findet Meergans.
Ähnlich sieht das Cornelia Holsten von der brema in Bezug auf die Posts von Babys auf Influencer:innen-Kanälen. „Je lauter die Debatte um das Thema stattfindet, desto eher wird ja auch dieses Thema kritisch wahrgenommen.“ Teilweise zeige sich eine solche Wirkung bereits dadurch, dass immer mehr Eltern die Gesichter ihrer Kinder verpixeln oder sie nur von hinten zeigen. „Man merkt es ja auch daran, wie die Eltern auf Anfragen von Journalist:innen reagieren“, sagt Holsten. „Insgeheim haben sie vielleicht auch ein schlechtes Gewissen.“
Wenn die kritische Haltung sich auch bei den Follower:innen durchsetze, dann würden Influencer:innen das Interesse verlieren, entsprechende Fotos zu posten – damit sich Abonnent:innen nicht von ihnen abwenden. Cornelia Holsten sagt: „Das wäre ehrlich gesagt der wirksamste Schutz der Kinder.“
Anmerkung: Normalerweise verlinken Quellen und Beispiele, die wir anführen. Um die Privatsphäre der beispielhaft erwähnten Kinder zumindest im Rahmen dieses Textes zu schützen, haben wir ihre Namen nicht genannt und nicht zu den Kanälen verlinkt.
Hilf mit! Mit Deiner finanziellen Hilfe unterstützt Du unabhängigen Journalismus.
0 Commentaires