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Informationsfreiheit in der EU: Bittbriefe an den Todesstern

Das Gebäude des Europäischen Rates

Für das Europaviertel in Brüssel wurde einst ein Stadtteil plattgewalzt, an seine Stelle pflanzten sich die Glas-und-Stahlbeton-Kästen der EU-Kommission. Neu im Ensemble ist das Europa-Gebäude des Rates, das in Brüssel wegen seines runden Innenbaus auch „Weltraum-Ei“ heißt.

Wer das erste Mal vor den gewaltigen Toren der EU steht, kommt sich verdammt klein vor. Die Machtarchitektur lässt ahnen, warum viele Menschen die EU für fern und unnahbar halten. Wer möchte schon vom Todesstern aus regiert werden?

Als unnahbar und undurchsichtig galt lange auch der Brüsseler Politikbetrieb. Gesetze wurden hinter verschlossenen Türen fabriziert, Menschen vor vollendete Tatsachen gestellt. Etwas werde in Brüssel einfach mal beschlossen und basta, sagte einst Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. „Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Um dieses Image zu bekämpfen, hat die EU einiges unternommen. Erste Schritte gab es ab den späten Neunziger Jahren. In der Aufbruchstimmung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs versprachen die EU-Staaten mehr Transparenz im Regierungshandeln.

Ein Herzstück: Die rechtliche Garantie auf Zugang zu amtlichen Dokumente, wie es sie in Skandinavien teils seit Jahrhunderten gibt. Was eine Behörde weiß, plant und mit wem sie spricht, sollte damit öffentlich einsehbar werden.

Was zunächst in Verträgen verankert wurde, trat am 30. Juni 2001 erstmals in Form einer EU-Verordnung in Kraft. Unter der spröden Kennnummer 1049/2001 schrieb sie das Prinzip fest, das jedes Dokument herausgegeben werden muss, das nicht klar unter eine von mehreren Ausnahme fällt. Geheim bleiben darf nur, was etwa dem Schutz von Privatsphäre oder Geschäftsgeheimnissen dient.

Und tatsächlich, die Verordnung trug Früchte. Tausende Anträge auf Zugang zu Dokumenten trudeln jedes Jahr bei den EU-Institutionen ein.

Genutzt wird das Informationsrecht nicht nur von Profis: Rund die Hälfte der Anträge stammt von Bürger*innen, der Rest kommt von Universitäten und Thinktanks, Firmen, Anwaltskanzleien, der Presse und NGOs, erhob die EU-Kommission. In vier von fünf Fällen gewähren die EU-Institutionen vollständig oder zumindest teilweise Zugang zu den Dokumenten.

Hilfe beim Antragstellen bietet AsktheEU. Die Plattform wird von der NGO Access Info betrieben und erlaubt es, kostenfrei und einfach Anträge an alle EU-Institutionen zu schicken. Heißes Thema auf der Plattform sind Lobby-Treffen. Seit einigen Jahren führt die Kommission Buch über Treffen mit Lobby-Gruppen – wer danach fragt, kann Dokumente über die Treffen erhalten. An die Öffentlichkeit gelangen so etwa E-Mails mit vertraulichen Positionen der Industrie oder Aufzeichnungen von Treffen zwischen Konzernchefs und Kommissaren.

„Das gibt es so in keinem Land der EU“, sagt Daniel Freund. Der EU-Abgeordnete der Grünen kann das gut beurteilen, denn vor seiner Wahl 2019 war er Experte für Korruptionsbekämpfung bei Transparency International. Von der Lobbytransparenz der EU könnten sich ihre Mitgliedsstaaten „eine Scheibe abschneiden“, sagt Freund. Freilich sei die EU in anderen Dingen hinterher.

Hunderte Klagen gegen Auskunftsverweigerung

In der Praxis stehen der Transparenz einige Hürden im Weg, das belegen hunderte Klagen gegen verweigerte Auskünfte vor den EU-Gerichten. Das Problem sind Institutionen, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen.

Positiv ist immerhin, dass die EU für ihren Dokumentenzugang grundsätzlich keine Gebühren verlangen darf. In Deutschland verrechnen Behörden für ihren Aufwand bis zu 500 Euro plus Kopierkosten, auch wenn oft unklar ist, ob hohe Gebühren wirklich gerechtfertigt sind.

Wer Anträge stellt, braucht allerdings Geduld. 15 Arbeitstage hat eine EU-Behörde Zeit, um zu antworten, der Gesetzestext räumt ihr nochmal 15 Tage in Ausnahmefällen ein. In der Praxis schieben die EU-Behörden die Fristen oft mehrfach auf, bis zur Antworten können oft Monate vergehen.

Zu den größten Ärgernissen von Transparenz-NGOs zählt, dass auf sein Recht am Ende nur beharren kann, wer vor Gericht zieht. Lehnt eine EU-Institution eine Anfrage und auch den Einspruch ab, ist die nächste Instanz das Gericht der Europäischen Union. Die meisten, deren Anträge abgelehnt werden, scheuen diesen Schritt, der viele tausend Euro an Anwaltskosten verschlingen kann.

Hilfe leisten soll die EU-Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly. Die Ombudsfrau darf abgelehnte Gesuche prüfen und gibt dazu eine Rechtsmeinung ab, dafür schuf ihr Amt sogar ein Express-Verfahren. Doch O’Reillys Behörde hat keine Durchsetzungsbefugnis, sie kann Druck machen, aber keine Lösung erzwingen.

EU-Staaten halten ihre Positionen hartnäckig geheim

Als größte Blackbox gilt der Rat der EU-Staaten. Der weigert sich konsequent, Einblick in den Gesetzgebungsprozess zu gewähren. Dadurch kann die Regierung eines Staates öffentlich das Eine sagen und hinter verschlossenen Türen etwas völlig anderes machen, ohne sich rechtfertigen zu müssen.

Ein Beispiel bietet die Steuertransparenz – jahrelang blockierte der Rat ein Gesetz, das Konzerne zwingen soll offenzulegen, wie viel an Steuern sie in einzelnen Ländern der EU zahlen. Dadurch sollte sichtbar werden, wenn profitable Firmen ihre Gewinne über Briefkastenfirmen in Niedrigsteuerländern parken.

Dass bei der Blockade des Gesetzes neben Deutschland auch Portugal und Schweden mitmachten, war in diesen Ländern unbekannt. Erst als Journalist*innen von Investigate Europe das enthüllten, machten die Regierungen dort einen Kurswechsel.

Das Gesetz verpflichtet den Rat eigentlich dazu, Dokumente aus dem Gesetzgebungsprozess in ein Dokumentenregister einzutragen. Was nicht als geheim eingestuft ist, soll grundsätzlich öffentlich gemacht werden.

Bei Anfragen beruft sich der Rat auf eine Ausnahme in der EU-Verordnung, nach der Dokumente unter Verschluss bleiben dürfen, „wenn eine Verbreitung den Entscheidungsprozess des Organs ernstlich beeinträchtigen würde“. Was eine Entscheidung beeinträchtigen würde, entscheidet der Rat allerdings oft eher eigenmächtig.

Dabei könne nicht pauschal gesagt werden, dass Vorschlägen von Mitgliedsstaaten immer „besonders sensibel“ seien, urteilte das Gericht der Europäischen Union. Allein dass es daran Kritik geben könne, sei kein Grund zur Geheimhaltung.

Um Verhandlungsdokumente nicht preisgeben zu müssen, schufen die EU-Staaten sogar eine neue Kategorie der Vertraulichkeit: Limite. So klassifizierte Dokumente werden nicht proaktiv veröffentlicht.

Das ist aus Sicht der Bürgerbeauftragten eine unzulässige Einschränkung des Dokumentenzugangs. Auch das EU-Parlament und eine Studie von Transparency International fordern den Rat auf, seinen Umgang mit Limite-Dokumenten zu überdenken.

Diese Hürden machten es „für die Bürger fast unmöglich, die Debatten über die Gesetzgebung zwischen nationalen Regierungsvertretern im Rat zu verfolgen, beklagt die Bürgerbeauftragte O’Reilly. Damit untergrabe der Rat das Recht der Bürger, ihre gewählten Vertreter zur Rechenschaft zu ziehen.

Selbst Definition von „Dokumenten“ ist umstritten

Auch das Parlament und die EU-Kommission stehen immer wieder am Pranger. Umkämpft ist selbst 20 Jahre nach Einführung der Verordnung selbst die Frage, was genau ein „Dokument“ ist. Briefe, Faxe und E-Mails legt die Kommission mit großer Selbstverständlichkeit in ihrem Archiv ab, allerdings läuft bei den EU-Behörden inzwischen viel Kommunikation über SMS, WhatsApp, iMessage und Signal.

Dass Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit dem Pharmariesen Pfizer kürzlich einen Deal über Millionen Impfstoff-Dosen in Anrufen und Textnachrichten vereinbarte, sorgte für eine Schlagzeile der New York Times. Auf eine Beschwerde von FragdenStaat.de hin stellte die Bürgerbeauftragte O’Reilly bereits zuvor klar, dass auch SMS und Instant-Nachrichten als Dokumente unter die Speicherpflicht fallen können.

Doch die Kommission weigert sich bislang beharrlich, SMS und Messenger-Nachrichten überhaupt zu archivieren. Diese würden nur „in außergewöhnlichen Umständen“ als Dokumente gelten. Diese Umstände erfüllt offenbar nicht einmal ein milliardenschwerer Impfstoffdeal, wie eine Antwort der Kommission an netzpolitik.org zeigt.

Auch blockiert die Kommission Versuche, den Wechsel von Beamten in lukrative Lobby-Jobs bei Konzernen zu untersuchen. Für Aufsehen sorgt in Brüssel, dass Ex-Kommissar Günther Oettinger bezahlte Engagements bei Firmen angenommen hat, für die er früher zuständig war. Solche Seitenwechsel sind umstritten, da Firmen sich damit Expertise und Kontakte erkaufen, die ihnen beim Lobbying einen Vorteil erschaffen.

Ein Beispiel liefert auch eine Recherche von netzpolitik.org über einen für Telekom-Märkte zuständigen Abteilungschef in der Kommission, der zu Vodafone wechselte. Die Kommission schwärzte seinen Namen auf Dokumenten, angeblich aus Datenschutzgründen. Sei weigerte sich selbst auf Aufforderung der Bürgerbeauftragte, den Namen zu entschwärzen – und könnte damit einen Interessenkonflikt vertuscht haben.

Ob bei solchen Seitenwechseln eine rote Linie überschritten werde, sei schwer zu beurteilen, da die Prozessen der Kommission dafür nicht transparent genug seien, sagte zuletzt die SPD-Abgeordnete und Parlaments-Vizechefin Katarina Barley. Um mehr Einblicke zu erhalten, möchte die Bürgerbeauftragte O’Reilly nun 100 Fälle von Seitenwechseln nochmal neuerlich prüfen.

Zugang zu beschränken kostet Steuergeld

Dass Rat und Kommission den Zugang zu Dokumenten scheinbar willkürlich eingschränken, sei bedauerlich, urteilt der EU-Abgeordnete Freund. Das schade Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung, wie etwa Vorwürfe gegen die ungarische Regierung zeigten. „Limitierter Zugang zu Dokumenten kostet den Steuerzahler Geld, weil Journalisten und NGOs ihre Arbeit nicht machen können.“

Dass die Lage sich bessert, ist nicht absehbar. Urteile der EU-Gerichte haben immer wieder Verbesserungen gebracht, stützen aber im Großen und Ganzen die gegenwärtige Praxis der Institutionen.

Ein Reformversuch der EU-Dokumentenverordnung ab 2008 scheiterte: EU-Abgeordnete und NGOs kritisierten damals, die Kommission und der Rat wollten den Zugang eher einschränken als erweitern. Seither sind Befürworter:innen von Transparenz vorsichtig damit, auf ein Generalüberholung der EU-Verordnung zu drängen – lieber wollen sie geltendes Recht besser durchsetzen.

Die vielen offenen Streitfragen, Berichte und Urteile zur Verordnung machen deutlich, dass Transparenz nicht rechtlich eingemauert werden kann – sie wird immer wieder aufs Neues eingefordert, auf die Probe gestellt und umkämpft.


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