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Wissenschaftler warnen: Chatkontrolle ist der falsche Weg

Die Idee einer anlasslosen Chatkontrolle stößt auf Widerstand in der Wissenschaft: Dreihundert Unterzeichner eines internationalen offenen Briefes melden „ernsthafte Vorbehalte“ gegen den Vorschlag an. Namhafte Forscher und Wissenschaftler aus mehr als dreißig Ländern wenden sich mit technischen Argumenten gegen die geplante systematische Überwachung.

Wie sich eine KI die Kontrolle von Chatnachrichten vorstellt (Diffusion Bee)

Gute Argumente im politischen Kampf um die Chatkontrolle liefert heute ein internationaler offener Brief aus der Welt der Wissenschaft. Mehr als dreihundert Unterzeichner aus über dreißig Ländern richten sich damit an die Europa-Parlamentarier und alle Mitgliedsländer des Rates der Europäischen Union. Wer den Brief liest, wird sich unweigerlich fragen, wie es möglich sein kann, dass die EU-Kommission ihren Plan angesichts der offenkundigen technischen Unsinnigkeit weiterverfolgt.

Die hierzulande oft nur kurz Chatkontrolle genannte Verordnungsidee ist international unter dem Begriff Child Sexual Abuse Regulation bekannt und soll dem Kampf gegen sexuelle Missbrauchsdarstellungen dienen. Die geplante EU-Gesetzgebung soll Internet-Dienstleister verpflichten, nach illegalen Inhalten zu suchen, die Gewalt und Missbrauch von Kindern zeigen, und diese an ein EU-Zentrum zu senden. Dafür sollen nach einer behördlichen Anordnung massenhaft Nachrichten, Bilder, E-Mails oder Sprachnachrichten von Nutzern gescannt werden. Für den Fall von Ende-zu-Ende-verschlüsselten Diensten muss diese Rasterung auf den Geräten der Nutzer selbst vollzogen werden. Der technische Begriff dafür ist Client-Side-Scanning (CSS).

Zu den Unterzeichnern des offenen Briefes zählen namhafte internationale Wissenschaftler der Informatik und angrenzender Fachgebiete und profilierte Verschlüsselungsforscher. Darunter sind auch einige renommierte Wissenschaftler wie der Brite Ross Anderson, die Australierin Vanessa Teague, die Schweizerin Carmela Troncoso und preisgekrönte US-Forscher wie Ron Rivest, Bruce Schneier, Susan Landau oder Matt Blaze, die bereits im Jahr 2021 eindringlich und mit technischem Blick vor den Risiken des Client-Side-Scannings (pdf) gewarnt hatten.

Sie betonen nun in dem offenen Brief nochmals, dass CSS ist eine gefährliche Technologie sei und weder sicher noch effektiv, um solch verbotenes Material zu finden. Es gäbe schlicht keine Software, die eine sinnvolle technische Lösung wäre. Auch „in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren“ sei eine derartige Technologie nicht zu erwarten. Zudem entstünden substantielle Gefahren sowohl für die Privatsphäre als auch für die Sicherheit von Menschen.

Lauter fälschliche Verdachtsfälle

Schon die Sinnhaftigkeit der technischen Umsetzung der Regulierungsidee bezweifeln die Wissenschaftler: Sie melden „ernsthafte Vorbehalte“ an, ob die Technologien wirksam sein können für den Zweck der Verordnung. Denn jeder, der das möchte, könnte Scanning-Software umgehen oder auf andere Technologien setzen, um verbotenes Material zu tauschen.

Die Wissenschaftler verweisen auf das lange bekannte und bewiesene Problem, dass Scanning-Technologien, die auf Hash-Funktionen beruhen, leicht getäuscht werden können. Nimmt man beispielsweise auch nur kleine Änderungen an einem Bild vor, errechnet sich ein anderer Hash-Wert, weswegen die Scanning-Software daran scheitert, das Bild als ein bereits bekanntes zu erkennen.

Zu erwarten sei zudem eine sehr große Zahl an fälschlich als Verdachtsfälle gemeldeten Dateien, die zugleich nennenswerte Ressourcen binde, die dann dem tatsächlichen Kampf gegen die Gewaltdarstellungen fehlen würden. Außerdem würde für jeden Einzelnen ständig die Gefahr drohen, fälschlich unter Verdacht zu geraten, verbotenes Material zu tauschen. Solche Falschmeldungen seien bei Einsatz von Verfahren der Künstlichen Intelligenz „eine statistische Gewissheit“ und auch nicht vermeidbar.

Stop scanning us

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Dass eine solche anlasslose Überwachung von individueller Kommunikation den europäischen Grundrechten entspricht, wird schon länger erheblich bezweifelt. Chatkontrolle sei aber auch technisch gesehen der falsche Weg, resümieren nun die Wissenschaftler.

Was man tun sollte, um Kinder besser vor Gewalt zu schützen: auf die Communitys setzen. Durch existierende Regelungen wie das Plattformgesetz DSA seien Anbieter bereits verpflichtet, es den Nutzern bei Beschwerden und Anzeigen gegen verbotenes Material leichter zu machen. Das würde ganz praktisch und im Gegensatz zu maschinellen Verfahren nämlich tatsächlich sinnvolle Hinweise auf verbotene Gewaltdarstellungen bringen.


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