Aiko Kempen ist freier Journalist, investigativer Reporter und recherchiert seit Jahren zu den Themen Polizei und Rechtsextremismus. Er arbeitet beim Magazin kreuzer und in der Redaktion der ARD-Sendung Monitor. An der Hamburger Akademie für Publizistik lehrt er investigative Recherche.
Sein neues Buch Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei ist im April 2021 beim Europa-Verlag erschienen.
Der Auszug erscheint mit freundlicher Genehmigung des Europa-Verlages.
Viel zu viele Einzelfälle
Es ist der 16. September 2020: Mehr als 200 Beamte der Polizei Nordrhein-Westfalen sind an diesem Mittwoch im Einsatz gegen ihre eigenen Kollegen. 34 Wohnungen und Polizeidienststellen durchsucht die Sonderkommission »Parabel« an diesem Morgen, beschlagnahmt Mobiltelefone und Computer. 30 Polizeibeamte werden noch am selben Tag vorläufig suspendiert. Die Polizistinnen und Polizisten sollen über Jahre hinweg in Chatgruppen rechtsextreme Inhalte ausgetauscht haben. Besonders im Fokus stehen zunächst Beamte der Polizei Essen, die sich seit 2012 in der rassistischen WhatsApp-Gruppe »Alphateam« schrieben.
»Was ich da gestern gesehen habe, hat eine Dimension in einer Abscheulichkeit, die ich nicht für möglich gehalten habe«, verkündet NRW-Innenminister Herbert Reul und äußert die Sorge, der Fall könne noch größere Ausmaße annehmen. Er wird recht behalten. Zwei Tage später werden zwei Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern wegen rechtsextremer Nachrichten suspendiert, auch gegen 15 ihrer Kollegen laufen Ermittlungen. In Berlin und Thüringen werden in den darauffolgenden Wochen ebenfalls rechtsextreme und rassistische Polizeichats bekannt. Und auch in Nordrhein-Westfalen kommen fortwährend neue rechte Verdachtsfälle dazu.
Viele Einzelfälle ergeben ein Muster
Es sind Wochen, in denen ein Wort an seine Grenzen kommt, das in der Kommunikation über Fehlverhalten bei der Polizei nicht wegzudenken ist. »Die schiere Zahl von Einzelfällen wird langsam mal zu viel«, erklärt Georg Maier, SPD-Innenminister in Thüringen und damaliger Vorsitzender der Innenministerkonferenz. Einzelfall – ein Begriff, der in seiner Bedeutung keinen Plural zulässt und gebetsmühlenartig vorgetragen wird, sobald die Polizei in der Kritik steht. Bereits bei dem Fall in Nordrhein-Westfalen allein könne man nicht von einem Einzelfall sprechen, kritisiert der Kriminologe und gelernte Polizist Martin Thüne deutlich. »Es sind mehrere Personen über mehrere Jahre mit mehreren Taten. Und wenn ich dann noch andere Fälle aus den vergangenen Jahren dazuzähle, dann ist das faktisch ein sich wiederholendes Muster«, sagt er.
Währenddessen steigt die Zahl der rechten Verdachtsfälle in der Polizei weiter. Als habe man in ein Wespennest gestochen, folgt im Herbst 2020 jeder Meldung über rechte und rassistische Umtriebe bei der Polizei alsbald die nächste. Bis zum Jahresende gibt es nahezu gleich lautende Meldungen aus allen Teilen Deutschlands. Es geht um rechtsextreme Chat-Nachrichten, Verbindungen zu organisierten Neonazis und Vorwürfe rassistischer Polizeigewalt.
Mitte Dezember 2020 laufen allein in Nordrhein-Westfalen mehr als 200 entsprechende Ermittlungsverfahren gegen Polizisten. In einigen Fällen wurden Suspendierungen aufgehoben, weil sich die Vorwürfe nicht bestätigt hatten; in anderen Fällen waren die Taten der Beamten bereits verjährt. Manche Polizisten blieben also unbehelligt, obwohl sie anscheinend genau das getan hatten, was ihnen vorgeworfen wurde. Bei einigen Polizisten kamen durch die Ermittlungen auch neue Vorwürfe hinzu. In weit über tausend Fällen steht der Straftatbestand der Verwendung von
Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im Raum, also Hakenkreuze, SS-Runen oder Hitlergrüße. Hinzu kommen Hunderte Fälle mutmaßlicher Volksverhetzung. Auf beschlagnahmten Computern und Handys finden die Ermittler Rechtsrock von indizierten Bands und mehrfach das verbotene Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der NSDAP. Bei zwei Beamten sollen allein mehr als 400 strafrelevante Bilder gefunden werden. Ein Polizist ließ sich fotografieren, wie er in Uniform auf zwei Streifenwagen mit dem Hitlergruß posierte; ein anderer legte ein Hakenkreuz aus Dienstmunition. Bei einem Beamten ergab die Auswertung seines Telefons deutliche Hinweise, dass er Mitglied der rechten Hooligangruppe »Alte Garde Essen« ist.
Als Einzelfälle könne er das nicht mehr bewerten, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister Reul deutlich. Zugleich verweist er darauf, dass Tausende Polizisten ihren Job gut machen und »eine vernünftige Haltung« haben. Ein strukturelles Problem in der Polizei sehe er daher nicht.
Chats machen sichtbar, was seit Jahren ignoriert wird
Ohne Zweifel betreffen die bekannt gewordenen Fälle rechter Polizeichats nur einen Bruchteil der rund 300.000 Polizistinnen und Polizisten in Deutschland. Aber wer entscheidet, ab wann aus diesem Bruchteil ein signifikanter Teil wird? Ab wann sind es zu viele Fälle, um darin nicht zumindest ein Muster zu erkennen? Denn die moderne flächendeckende Nutzung von Messengern und Gruppenchats konserviert eine Alltagskommunikation, die vorher im Dunkeln blieb. Und die bekannt gewordenen rassistischen Polizeigruppen dokumentieren etwas, das vor allem People of Color in Deutschland seit Jahren berichten: rassistische Ansichten und rechtsextreme Einstellungen unter Teilen der deutschen Polizei.
Am 10. November 2020 verurteilt das Amtsgericht Köln einen Polizisten zu einer Bewährungsstrafe von drei Monaten. Er hatte auf Facebook dazu aufgefordert, nordafrikanischen Straftätern in die Geschlechtsteile zu schießen. | An Heiligabend 2018 beleidigt ein Polizeioberkommissar einen Nigerianer im Polizeigewahrsam als »dreckige Negersau« und »Tier«. Er wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Worte seien im Eifer des Gefechts gefallen, »nicht als Ausdruck einer rassistischen Gesinnung«, erklärt der Richter. | Am 23. September 2014 verurteilt das Amtsgericht Berlin-Tiergarten zwei Polizisten zu Geldstrafen. Sie hatten ein Jahr zuvor betrunken und außer Dienst Jagd auf angebliche Dealer gemacht und dabei eine Schwarze Person zusammengeschlagen. | Bei einem Polizeieinsatz in Frankfurt nach einer Fahrscheinkontrolle im Oktober 2012 wird ein Deutsch-Äthiopier so schwer verletzt, dass er drei Tage im Krankenhaus behandelt werden muss. Ein Polizist, der ihn geschlagen und getreten haben soll, wird erst zu einer Geldstrafe verurteilt, dann in zweiter Instanz freigesprochen. Das Opfer habe sich beim Einsteigen in das Polizeiauto selbst verletzt, heißt es schließlich.
Wie groß der Anteil von Polizisten mit rechtsextremen und rassistischen Einstellungen ist, bleibt unklar. Nicht jeder Polizist schreibt in einer rechten Chatgruppe. Nicht jede rechte Chatgruppe wird öffentlich. Und nicht jeder Polizist, der rechtsextreme oder rassistische Nachrichten verschickt, ist zugleich organisierter Neonazi oder rassistischer Schläger. Dennoch weisen die zahlreichen aufgedeckten Gruppen auf ein bedrohliches Potenzial hin, das in dieser Deutlichkeit nie zuvor dokumentiert war. »Es wäre natürlich naiv zu glauben, dass die jetzt dieses Gedankengut nur in sich tragen und in Chats zum Ausdruck bringen«, kommentiert Sebastian Fiedler, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), die Chat-Protokolle einer Dienstgruppe der Polizei Berlin. »Diejenigen, die sich hier auf derart menschenverachtende Weise geäußert haben, müssten ja eine völlig andere Gedankenwelt an den Tag legen, wenn sie jetzt polizeiliche Maßnahmen ergreifen«, sagt Fiedler. Die Gefahr sei groß, dass das unprofessionell, falsch oder rechtsverletzend geschehe.
Tatsächlich berichten seit Jahrzehnten Menschen bundesweit über diskriminierende Behandlungen bis hin zu rassistischer Gewalt durch einzelne Polizeibeamte. Auch in den Fällen aus Nordrhein-Westfalen, die 2020 Schlagzeilen machen, sollen sich die rassistischen Einstellungen beteiligter Polizisten nicht nur in Chat-Nachrichten niedergeschlagen haben. Einer der führenden Köpfe der »Alphateam«-Chatgruppe in Essen soll mehrmals auf einen albanisch-stämmigen Mann eingeschlagen haben, der gefesselt am Boden lag. Eine Kollegin schilderte den Fall ihrem Vorgesetzten, doch Konsequenzen folgten zunächst nicht. Und schon bevor der Chat-Skandal den bundesweiten Blick auf die Polizei Essen lenkte, waren dort mehrfach Vorwürfe wegen mutmaßlich rassistischer Polizeigewalt und einer Nähe zur rechten Szene aufgeworfen worden. Fotos zeigen einen Essener Polizisten, der in Uniform mit einer rechten Bürgerwehr posiert. Eine libanesisch-stämmige Familie aus Essen berichtete im April 2020, Polizisten hätten sie bei einem Einsatz wegen Ruhestörung mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Fäusten attackiert und verletzt. Wenige Wochen zuvor soll eine schwarze Familie auf einer Polizeiwache in Essen rassistisch beleidigt und geschlagen worden sein. »Wenn’s dir nicht passt, dann geh aus unserem Land und sei froh, dass wir nicht in den USA sind, da würde es dir noch schlimmer ergehen«, sollen die Polizisten einem der Verletzten gesagt haben. Die Essener Polizei wies in allen Fällen Rassismusvorwürfe zurück.
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Es scheint nahezu unmöglich, bei all diesen Vorwürfen und Vorfällen den Überblick zu bewahren. Zu viele sind es, zu vielfältig sind die Verfehlungen von rechtsextremen und rassistischen Polizisten. Auch offizielle Zahlen helfen hier nicht. Zu groß ist das Dunkelfeld, zu ungenügend sind die Lagebilder. Fest steht jedoch zweifellos – und das soll hier noch einmal klar betont werden: Es gibt sie. Rassisten in Uniform. Rechtsextreme in Uniform. Und Neonazis in Uniform.
»Sie haben recht, es sind keine Einzelfälle«, erklärt der CDU-Abgeordnete und Polizist Bodo Löttgen am 7. Oktober 2020 im nordrhein-westfälischen Landtag mit Blick auf die zahlreichen aufgedeckten rechten Chat-Inhalte. Trotzdem weigere er sich zu sagen, es sei ein strukturelles Problem der Polizei. »Wir müssen endlich eine Sprachregelung finden, die uns ermöglicht, zwischen Einzelfällen und strukturellem Defizit eine vernünftige Beschreibung der Situation zu finden. Das wird unsere Aufgabe sein«, führt er aus. Als sei es vor allem eine Frage der richtigen Worte, wie mit dem umzugehen ist, was seit Jahren berichtet und hier zumindest ausschnittsweise dokumentiert ist: viel zu viele Einzelfälle. Doch wie viele Einzelfälle ergeben eine Struktur?
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