Mit vier Monaten Verspätung veröffentlicht die EU-Kommission eine Evaluierung der freiwilligen Chatkontrolle. Der Bericht selbst spricht von einer „Unzulänglichkeit der Daten“, stuft die Massenüberwachung aber als verhältnismäßig ein. Kritiker halten das Papier für eine Luftnummer.
Unabhängig von den Plänen einer verpflichtenden Chatkontrolle, die vorerst gescheitert scheinen, gibt es schon seit Jahren eine freiwillige Chatkontrolle, bei der Internet-Dienste wie Microsoft, Google oder Facebook schon heute Inhalte ihrer Nutzer:innen scannen. Das ist eigentlich in der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation verboten, wird aber durch eine Ausnahmeregelung erlaubt.
Teil dieser Ausnahmeregelung ist ein verpflichtender Bericht, den die EU-Kommission eigentlich bis August hätte veröffentlichen sollen, was sie nicht tat. Jetzt, als sich abzeichnet, dass die verpflichtende Chatkontrolle in Parlament und Rat keine Chance hat, will die EU-Kommission die freiwillige Chatkontrolle um zwei Jahre verlängern – und hat am gestrigen Dienstag mit vier Monaten Verspätung noch den Bericht zu dieser veröffentlicht.
Vage Datenlage
Der Bericht bleibt in Fakten und Schlussfolgerungen äußerst vage. Die Kommission moniert, dass die Zahlen nicht richtig vergleichbar sind. Auch im Hinblick auf die zentrale Frage der Verhältnismäßigkeit der Überwachungsmaßnahme konstatiert der EU-Bericht: „Die verfügbaren Daten reichen nicht aus, um diesbezüglich endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen.“ Überraschend kommt der Bericht dennoch zum Schluss: „In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen gibt es jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ausnahmeregelung nicht verhältnismäßig ist.“
Ein großes Problem sind auch „unterschiedliche Rechtsstandards“, „vor allem was die einschlägigen Definitionen betrifft“. Staaten haben unterschiedliche Definitionen von strafbarer Kinderpornografie, die oft weit mehr umfasst als sexualisierte Gewalt gegen Kinder. In der EU gibt es unterschiedliche Altersgrenzen für „Kinder“, in Deutschland sind Kinder ab 14 Jahren Jugendliche. Darüber hinaus gibt es rechtliche Unterschiede „insbesondere zwischen der EU und den USA“.
Patrick Breyer, EU-Abgeordneter der Piraten, kritisiert die Leerstellen: „Im Bericht wird verschwiegen, was Kommissarin Johansson vor den EU-Innenministern jüngst eingeräumt hat: Nur mit jedem vierten ausgeleiteten Privatfoto oder -video kann die Polizei überhaupt etwas anfangen, zu 75% gelangen durch die Chatkontrolle strafrechtlich völlig irrelevante private und intime Bilder und Videos in Hände von Mitarbeitern, bei denen sie nicht sicher sind.“
„Eine Luftnummer“
Kritik gibt es auch, weil der Bericht die mit Vorsicht zu genießenden NCMEC-Meldungen mit der freiwilligen Chatkontrolle von Facebook & Co. vermischt. Patrick Breyer bezeichnet den Bericht als Luftnummer: „Da werden Zahlen zu Verdachtsmeldungen, Identifizierungen und Verurteilungen in den Raum gestellt, ohne dass ein Zusammenhang mit der Chatkontrolle privater Nachrichten belegt ist, weil NCMEC-Meldungen auch auf Nutzermeldungen oder öffentlichen Posts/Webseiten beruhen.“
Damit fehle jeder Nachweis, dass die eigenmächtige Massenüberwachung der privaten Kommunikation durch US-Dienste von Meta, Google oder Microsoft einen signifikanten Beitrag zur Rettung missbrauchter Kinder oder Überführung von Missbrauchstätern leiste, sagt Breyer. Die Überwachung kriminalisiere umgekehrt tausende Minderjährige, überlaste Strafverfolger und öffne einer willkürlichen Privatjustiz der Internetkonzerne Tür und Tor.
Die freiwillige Chatkontrolle läuft im August 2024 aus. Bis dahin wird die EU-Kommission versuchen eine Verlängerung zu erreichen. Heute geben die EU-Staaten dafür grünes Licht. Beobachter gehen davon aus, dass es nach der Verlängerung der freiwilligen Chatkontrolle einen weiteren Anlauf für die verpflichtende Chatkontrolle geben könnte.
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