Sollen Messenger oder Social-Media-Plattformen die Chats ihrer Nutzer:innen durchsuchen müssen? Das EU-Parlament hat eine Position dazu entwickelt: Der Kompromissvorschlag schränkt die Suchanordnungen stark ein. Mit ihm geht das Parlament nun in die Trilog-Verhandlungen.
Im Europaparlament gibt es keinen Einspruch gegen die im EU-Innenausschuss (LIBE) verhandelte Position des Parlamentes bei der Chatkontrolle. Die Regularien der Gesetzgebung sehen vor, dass die ausgehandelte Position noch einmal im ganzen Parlament abgestimmt werden muss, wenn mindestens ein Zehntel der Abgeordneten widersprechen. Dies ist nicht geschehen, wie das Parlament heute mitteilt. Damit gilt der ausgehandelte Kompromiss als angenommen – und das Parlament ist bereit für die nächste Phase im Gesetzgebungsprozess, die sogenannten Trilog-Verhandlungen mit Kommission und Rat.
Bei der Chatkontrolle geht es um eine Verordnung, die sich laut der EU-Kommission gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Internet richtet. Die ursprünglichen Pläne der EU-Kommission würden mit der „Chatkontrolle“ eine neue Form anlassloser Massenüberwachung einführen – sogar von verschlüsselter Kommunikation. Technisch ist das Suchen nach bestimmten Inhalten nur mit der Technologie des Client-Side-Scannings möglich, also einer Suchfunktion auf den Endgeräten. Damit lassen sich Inhalte durchleuchten, bevor sie gegebenenfalls verschlüsselt werden. Gegen diesen massiven Eingriff in die Privatsphäre und die Vertraulichkeit der Kommunikation hatten sich weltweit Bürgerrechtsorganisationen und Expert:innen aus verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Bereichen ausgesprochen.
Der Kompromisstext des Parlaments nimmt nun das verdachtslose, automatisierte Durchsuchen von Dateien aus dem Text heraus und schützt zudem verschlüsselte Kommunikation besonders. Scans dürften nur nach einem richterlichen Beschluss bei verdächtigen Einzelpersonen oder Gruppen stattfinden, nicht mehr wie ursprünglich vorgesehen standardmäßig bei allen EU-Bürger:innen. Der Kompromisstext enthält weiterhin die Möglichkeit für Netzsperren und Alterskontrollen, allerdings sind diese an recht strenge Bedingungen geknüpft. Die Parlamentsposition kann in den Trilog-Verhandlungen noch verwässert werden. Viel kommt darauf an, wie sich die Mitgliedstaaten im Rat positionieren.
Im EU-Rat, also der Vertretung der Länder, herrscht bislang keine Einigkeit, eine Abstimmung wurde schon zweimal verschoben. Deutschland, Österreich, Niederlande und andere Länder wollen im Rat nicht für den aktuellen Gesetzesvorschlag der Ratspräsidentschaft stimmen. Sobald der Rat eine Position gefunden hat, können die Trilog-Verhandlungen beginnen.
EU-Kommissarin in der Kritik
Die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson ist wegen der Verordnung seit Monaten in der Kritik. In den letzten Wochen und Monaten kam zudem durch eine internationale Recherche heraus, dass ein millionenschweres Lobbynetzwerk, das sowohl wirtschaftliche wie überwachungspolitische Pläne verfolgt, auf den Verordnungstext Einfluss genommen hat. Innenkommissarin Ylva Johansson stritt die Lobbyverflechtungen ab und stellte die Medien in die Nähe von Verschwörungstheorien. Auf der anderen Seite nutzte die EU-Kommission bei einer Werbekampagne auf Twitter Methoden des politischen Mikrotargeting. Wegen dieser Werbung gibt es eine Voruntersuchung des europäischen Datenschutzbeauftragten sowie eine Beschwerde der Datenschutzorganisation noyb.
Zuletzt kam über eine bisher von der EU-Kommission geheim gehaltene Liste heraus, dass Geheimdienstvertreter:innen und Polizeien verschiedener Länder frühzeitig in die Chatkontrolle-Verordnung eingebunden waren. Dokumente aus der Anfangszeit der Chatkontrolle-Pläne legen zudem nahe, dass es immer schon um die Umgehung verschlüsselter Kommunikation ging. Eine große Rolle spielte im gesamten Prozess auch die Start-up-ähnliche Organisation Thorn. Nicht zuletzt zeigte ein Brief der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson an Thorn, wie eng die Organisation mit der EU-Kommission zusammenarbeitet.
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