Das heimliche Filmen in der Öffentlichkeit hat sich zu einem eigenen Genre in den sozialen Medien entwickelt. Auf der Jagd nach authentischen Inhalten setzen sich Content Creator:innen über die Privatsphäre und Rechte ihrer Mitmenschen hinweg. Eine neue Form der Überwachung entsteht.
Lennart* sitzt im Fenster seiner Berliner Wohnung und raucht. Aus einem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite richtet ein unbekannter Musiker die Linse seiner Handykamera auf den jungen Mann und beginnt zu filmen. Lennart nimmt einen Zug von seiner Zigarette, schüttelt sachte den Kopf, als würde er einen unliebsamen Gedanken verscheuchen und blickt verträumt die Straße hinunter. Der Musiker stoppt die Aufnahme. Er legt seine neue Single unter das Video und veröffentlicht den Clip auf Instagram. Lennarts Cousine ist die erste einer ganzen Reihe von Freund:innen, Familienmitgliedern und Bekannten, die sich mit einem Link zum Video meldet: „Hier, deine fünfzehn Sekunden Fame.“ Lennart antwortet schockiert: „What the fuck“. Innerhalb weniger Tage sehen über zwei Millionen Menschen das Video.
In den Kommentaren häufen sich derweil kritische Stimmen: „New Fear unlocked: those days while you’re sitting on window smoking as you wanna process your shitty day someone else is also watching and recording like leave ppl alone“. Knapp zwanzigtausend Likes gibt es für den Beitrag „A ***** can’t even sit out his window and have a cig in peace anymore smh (Abk. für shake my head)“. Eine empörte Nutzerin fragt: „Can we stop normalising filming strangers?“
Mitmenschen als Content
Das Verhalten ist bekannt: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zücken Menschen ihr Smartphone und beginnen zu filmen oder zu fotografieren. Sie verarbeiten ihre Umwelt dabei zu „Content“, sprich in digitale Inhalte, die sie online teilen. Da sich beinahe die gesamte westliche Gesellschaft auf sozialen Medien bewegt, konsumieren und produzieren ihre Akteur:innen unablässig Content. Das gilt sowohl für Unternehmen von Duolingo bis Ryanair, Personen des öffentlichen Lebens wie Leichtathlet:innen oder Pornostars, Prominente, Künstler:innen und die, die es werden wollen, sowie für eine stetig wachsende Zahl an Privatpersonen.
Aus dem Kreieren und Teilen von digitalen Inhalten respektive Content durch Nutzer:innen sozialer Medien ist unlängst ein eigener Wirtschaftszweig entstanden. Die sogenannte „Creator Economy“ setzt um die 250 Milliarden Dollar pro Jahr um, Tendenz steigend. Es soll inzwischen über 200 Millionen Content Creator:innen auf dem Planeten geben. Davon verdienen nur etwa ein Prozent ihren Lebensunterhalt mit der Erstellung von Content.
Die Architektur und Funktionsweise sozialer Medien gibt eine auf Masse ausgelegte Postingfrequenz vor, die Creator:innen dazu ermuntert, so viel Content wie möglich zu produzieren. Um für das Publikum eine Projektionsfläche zu bieten, versuchen Creator:innen ihren Content „relatable“ zu gestalten. Relatable sind Inhalte dann, wenn sich die Nutzer:innen sozialer Medien mit ihnen identifizieren können.
Dazu gilt auf Instagram, TikTok und Co. vermeintliche „Echtheit“ als wertvolles Gut. Heimliche Aufnahmen versprechen Authentizität, da sich die Gefilmten „natürlich“ verhalten. Symbolträchtige und stark emotionalisierte Handlungen und Bilder sind besonders beliebt. Diese Art von Content funktioniert so gut auf den sozialen Medien, dass sich um das heimliche Filmen in der Öffentlichkeit inzwischen eigene virale Genres gebildet haben.
Aufnahmen ohne Zustimmung der Gefilmten
Für den Trend „what people are wearing“ filmen Beobachter:innen aus Cafés, Restaurants, Bars oder den eigenen vier Wänden vorübergehende Passant:innen mit ausgefallenen Outfits – ohne vorher zu fragen. Die Zusammenschnitte der Aufnahmen werden später auf TikTok und Instagram geladen.
Unter den Suchbegriffen „NPC encounter“ oder „NPC conversations“ finden sich Aufnahmen von Menschen, die sich in der Öffentlichkeit „abnormal“ bis aggressiv verhalten. Der Begriff „NPC“ stammt aus der Videospielkultur. Die Abkürzung steht für „Non-Player-Character“ und beschreibt computergesteuerte Charaktere, die sich nach einem von den Spiele-Entwickler:innen vorgegebenen Handlungsmuster verhalten. Ihre repetitiven Monologe und Bewegungen sind oft unfreiwillig komisch.
Die Filmenden machen die Interaktionen mit den menschlichen „NPCs“ zu einem Spektakel, das ein Millionenpublikum über den Smartphone-Bildschirm begafft und verhöhnt. Wer „NPC berlin“ in der Suchleiste von Tiktok eingibt, bekommt unter anderem Videos von schlafenden Obdachlosen und Junkies beim Drogenkonsum in Berliner U-Bahnstationen angezeigt.
Im Rahmen des „random act of kindness“ Trends filmen sich Menschen dabei, wie sie anderen Menschen vorgeblich etwas Gutes tun, um die Videos dann auf ihren Kanälen hochzuladen. Dafür überreichen Creator:innen vor laufender Kamera Blumensträuße an alte Damen oder schenken Bettler:innen ein Mittagessen.
Die Verlockung der Reichweite
Auch wenn TikToker:innen an Bahnhöfen und in Fußgänger:innenzonen Trends nachtanzen, im Fitness-Studio schwitzen, oder sich als Tube-Girls in U-Bahnen inszenieren, geraten dabei zwangsläufig andere Menschen ins Bild. Eine Verpixelung der Gesichter findet dabei nur in den seltensten Fällen statt. Im Gegenteil heben Creator wie ducuri.gmv oder babalagrande unfreiwillige Interaktionen sogar mit Texteinblendungen über den Köpfen der Gefilmten hervor.
Wenn sich die Nutzer:innen über Inhalte empören und wie in Lennarts Fall ihren Ärger in kritischen Kommentaren ausdrücken, dient das der algorithmischen Verbreitung des Videos. Denn negative Gefühle erregen mehr Aufmerksamkeit – ein Katalysator für „streitbaren“ Content. Der Bruch der Privatsphäre lohnt sich.
Obwohl ein virales Video noch keine Goldgrube für Creator:innen darstellt, hat die Verlockung der Reichweite eine starke Anziehungskraft entwickelt, hinter der Bedenken über Privatsphäre und mögliche Folgen für Gefilmte verblassen. Für die Betroffenen besteht die latente Gefahr, später als Meme durch das Netz zu geistern.
Unternehmerischer Blick
Selbstverständlich sind Smartphone-Kameras auch Waffen gegen Machtmissbrauch und Empowerment-Instrumente. Die Aufdeckung unzähliger Straftaten ist der Zivilcourage von Filmenden zu verdanken. Durch ihre Reichweite verschaffen Influencer:innen und Filmende wichtigen Themen die nötige Aufmerksamkeit. Wenn ein Künstler betrunkene Business-Männer auf Tokios Straßen fotografiert, sagt das immerhin etwas über die Arbeitskultur der japanischen Gesellschaft aus. Der umstrittene Rüpelfotograf Bruce Gilden, der Fußgänger:innen auf den Straßen New Yorks regelrecht auflauert und Portraits ohne deren Einwilligung schießt, ist mit seinem tragbaren Blitz und der analogen Kamera wenigstens als Fotograf identifizier- und ansprechbar. Den Aufnahmen der unsichtbaren Creator:innen liegt dagegen oft kein künstlerischer oder aktivistischer Impuls zugrunde.
Es geht um Masse, Clicks und Reichweite, die harte Währung der sozialen Medien. Linoya Friedman, die selbsternannte Erfinderin von „what people are wearing“, hat um den Trend eine Marke aufgebaut. Fans können die Outfits der gefilmten Menschen schnell und unkompliziert über Affiliate-Links nachshoppen. Friedman kassiert dafür Provisionsgebühren.
Eine französische Bloggerin filmt von ihrem Büro aus Pariser Bürger:innen, lädt die Videos unter dem Hashtag #stylespy auf Instagram hoch und geht damit regelmäßig viral. Die dadurch gewonnene Reichweite hilft beim Verkauf der selbstgeschriebenen Reiseführer.
Dazu folgen zahlreiche Amateur-Accounts dem Erfolgsrezept des heimlichen Filmens in der Hoffnung, einen viralen Hit zu landen. Sie geben sich als versteckte Dokumentarfilmer:innen aus, wenn sie beispielsweise mit „love at every age“ betitelte Videos von einer zu Straßenmusik tanzenden Mutter mit Kind auf dem Arm hochladen oder einen gutaussehenden jungen Mann wie Lennart filmen, der verträumt in den Berliner Himmel blickt und bewerben gleichzeitig eigene Produkte. Die Creator:innen ignorieren dabei, dass in Deutschland ein Recht am eigenen Bild existiert.
Heimliches Filmen kann strafbar sein
Die heimliche Anfertigung von Videoaufnahmen von Privatpersonen sei häufig rechtswidrig, sagt Nima Valadkhani, Rechtsanwalt und Experte für Urheber-, Medien- und Kartellrecht der Kanzlei Advant Beiten. Im Fall von Lennart gelte dies umso mehr, da er sich innerhalb seiner Wohnung befinde. Eine Wohnung unterliegt, ähnlich wie ärztliche Behandlungszimmer oder Umkleidekabinen, einem besonderen rechtlichen Schutz gegen Einblicke. Hinzu komme, dass der Musiker Lennart im Rahmen einer geschäftlichen Handlung dazu „benutzt“, um seine neue Single zu bewerben.
Betroffene hätten Anspruch auf Schadenersatz, die Löschung des Videos, Auskunft, wo das Video überall hochgeladen wurde und gegebenenfalls auch darüber, wie viel Gewinn der Urheber mit dem Video erzielt hat. Dass gegen Täter:innen juristische Mittel eingelegt werden, passiert in Deutschland aber nur selten, auch weil die gefilmten Personen keine Kenntnis über die Veröffentlichung erlangen.
Schlafende und hilflose Menschen zu filmen sei ein massiver Eingriff am Recht am eigenen Bild und kann sogar strafrechtlich relevant sein, da sich die Betroffenen in einem Zustand der Ohnmacht befinden. Ein Gericht könne hier Geld- oder gar Haftstrafen verhängen. Laut Valadkhani komme es für die zivil- und strafrechtliche Bewertung jedoch immer auf den Einzelfall und die Rechtsanwendung durch die zuständigen Richter:innen an.
Symbol der Oberflächlichkeit
Nach einem Treffen mit Lennart und den Hinweis auf die Rechtswidrigkeit der Veröffentlichung hat der Musiker das virale Video entfernt. Der Vorfall hat sich für ihn trotzdem gelohnt: Immerhin haben zwei Millionen Menschen, die das Video auf Instagram gesehen haben, seine Musik gehört – mehr als jemals zuvor. „Eine gewisse Genugtuung gab es da trotzdem“, sagt Lennart im Gespräch mit netzpolitik.org. „Einige Leute haben in mir wohl Dinge gesehen, mit denen ich mich teilweise auch identifizieren kann. Das beweist ja, dass ich eine gewisse Ästhetik transportiert habe.“
Die Interpretationen des Videos in der Kommentarspalte lieferten dafür ein falsches Bild von der Situation. Dabei stört Lennart ganz grundsätzlich das Täuschungspotential sozialer Medien: „Als virale Persona werde ich gewissermaßen zu einem Symbol für diese Oberflächlichkeit. Denn ehrlich gesagt hatte ich in diesem Moment keine besonders tiefen Gedanken. Ich saß einfach da und war ich selbst.“ Für Lennart bleibt das unbehagliche Gefühl, im Fenster der eigenen Wohnung jederzeit beobachtet werden zu können. Seitdem hat sich seine Selbstwahrnehmung verändert. „Eigentlich will ich mir keine Gedanken über mein Aussehen machen, wenn ich in meinem Fenster oder auf meinem Balkon sitze“, sagt Lennart. Damit sei es seit der Veröffentlichung des Videos vorbei.
Eine neue Form der Überwachung
„Das Bedürfnis nach Bestätigung der Realität und Ausweitung des Erfahrungshorizonts durch Fotografien ist ein ästhetisches Konsumverhalten, dem heute jedermann verfallen ist. Die Industriegesellschaften verwandeln ihre Bürger in Bilder-Süchtige; dies ist die unwiderstehlichste Form von geistiger Verseuchung“, hielt Susan Sontag in ihrem 1977 erschienenen Buch „Über Fotografie“ fest. Laut Sontag lehren uns Bilder einen neuen visuellen Code, der die Vorstellung davon verändert, was wir für anschauenswert und beobachtbar erachten. Was damals noch allzu dystopisch klang, bedarf durch die dauerhafte Präsenz von hochauflösenden Kameras und der Möglichkeit jedes Bild in Echtzeit zu teilen einer gedanklichen Revision.
Wenn virale Trends wie „what people are wearing“, „NPC encounter“ oder die „random acts of kindness“ regelmäßig in den Feeds und For-You-Pages auftauchen, radikalisiert sich durch deren Rezeption der Blick der Nutzer:innen. Das heimliche Filmen von Menschen wird normalisiert, die aggressive Aneignung ihrer Erfahrungen zum Tagesgeschäft. Durch das Zusammenspiel der weitgehend zügellosen Empfehlungsmechanismen sozialer Medien wie TikTok und der Allgegenwart von Smartphones kann ein Beobachtungsdruck für alle anderen entstehen, was wiederum das Verhalten im öffentlichen Raum beeinflusst.
Selbst diejenigen, die sich den sozialen Medien entziehen, laufen Gefahr, von Creator:innen zu Subjekten ebendieser gemacht zu werden. So entsteht eine neue Form der privaten Überwachung. Dahinter stehen nicht wie üblich datenhungrige Konzerne oder Sicherheitsbehörden, sondern Menschen mit gezückten Smartphones, die jederzeit auf „Record“ drücken können, um uns ihrem „Content Gaze“ zu unterwerfen.
Doppelte Ausbeutung
Diese ästhetische Ausbeutung durch die Creator:innen wiegt dabei doppelt schwer: Sie nehmen uns das Recht am eigenen Bild, um es dann als digitale Ware zu vermarkten und ihrem jeweiligen Geschäftsmodell, sei es im Dienste von Clicks, Reichweite, Aufmerksamkeit oder Einnahmen durch Werbung, zuzuführen.
Sie verwandeln die zufällige Schönheit eines besonderen Moments, wie er sich beispielsweise in der innigen Umarmung zweier Verliebter auf einer Parkbank zeigt, in visuelles Kapital. Wer heute in der Öffentlichkeit die Kontrolle verliert, in der U-Bahn einschläft, sich außerordentlich gut oder wahlweise schlecht anzieht, stilvoll Zigaretten raucht, „Main Character Energy“ ausstrahlt, szenisch küsst, lacht, weint oder sich auf jede andere erdenkliche Weise erzählenswert verhält und so ein narratives Potential für soziale Medien schafft, muss damit rechnen, heimlich fotografiert oder gefilmt zu werden und später ungefragt im Netz zu landen.
* Name geändert
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