Die Hälfte der Regierungszeit von SPD, Grünen und FDP ist vorbei. Sie wollten vieles anders machen, doch digitale Grundrechte stehen vor den gleichen Hindernissen wie in der Unionsära und progressive Vorhaben werden vertagt. So darf es nicht weitergehen. Ein Kommentar.
Dieses Gefühl, wenn man ganz frisch in einer Beziehung ist, nennt sich auf modern „New Relationship Energy“. Man ist ganz oft ganz aufgeregt und sieht die schönen Seiten. Die Macken der neuen Beziehungsperson fallen noch nicht so auf. Das beschreibt zumindest ein bisschen das Gefühl, das manche aus der Zivilgesellschaft nach 16 Jahren Regierung unter Führung der Union hatten.
Denn das waren 16 Jahre Neuland. Eine Ära, in der am Ende doch nicht jede Milchkanne schnelles Netz hatte, aber in der Sicherheit ein Supergrundrecht wurde. Und in der Innenminister wie Horst Seehofer und Thomas de Maizière digitale und analoge Freiheitsrechte so schnell geschliffen haben, dass das Verfassungsgericht kaum hinterherkam. Und dann: eine Ampel, die sich selbst Fortschrittskoalition taufte. Alles anders?
Die Hälfte der Post-Unionslegislatur ist nun vorbei. „Besser als ihr Ruf“ überschreibt die taz einen Text zur Halbzeitbilanz der Ampel. Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung hat ergeben: Es seien doch schon recht viele Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt oder angegangen, auf jeden Fall deutlich mehr als die GroKo vorher in vier Jahren geschafft hat.
Beim Digitalen wird es dünn
Aber schaut man sich die Ergebnisse an, fällt auf: Wenn es ans Digitale geht, wird es dünn. Und damit meine ich nicht nur die Versprechen, für die Volker Wissings Ministerium für Digitales und Verkehr verantwortlich ist – etwa ein verschobenes Digitalbudget oder ein Mobilitätsdatengesetz, zu dem mittlerweile zumindest Eckpunkte vorliegen.
Digitale Freiheitsrechte scheitern weiterhin, so als sei es ein Naturgesetz, an der Tür des Innenministeriums. Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung endgültig zu beerdigen, wäre ein leichtes. Im Oktober 2022 – vor fast einem Jahr – legte das Justizministerium einen Entwurf für eine Quick-Freeze-Alternative vor. Doch Nancy Faeser – halb Innenministerin, halb hessische SPD-Spitzenkandidatin – passt das nicht. Daher passiert seitdem, zumindest nach außen: nichts.
Ähnlich sieht es beim Ausschluss von Hackbacks und bei der Einführung eines Schwachstellenmanagements aus. Es sind fast No-Brainer aus dem Koalitionsvertrag, die unser aller IT-Sicherheit erhöhen würden. Doch die Ministerin, offenbar beraten von genau jenen, die schon Horst Seehofer zuarbeiteten, macht längst geführte Diskussionen wieder auf. Währenddessen warten wir weiter auf eine Überwachungsgesamtrechnung, die ursprünglich bis Ende 2023 stehen sollte. Aktuell ist noch nicht einmal der Auftrag vergeben, wie das Bundesbeschaffungsamt uns mitteilte. Der neue Plan für die Fertigstellung ist Ende 2024.
Ein Talent fürs Verschieben
Für das Verschieben begrüßenswerter Vorhaben hat die Ampel ein Talent, etwa beim Transparenzgesetz. Da sollten schon Ende 2022 Eckpunkte präsentiert werden, doch nun soll das Gesetz erst 2025 in Kraft treten. Dass so ein Transparenzgesetz kurz vor Ende der Legislatur ein Rezept zum Scheitern ist, haben Berliner Landesregierungen nun schon zwei Mal gezeigt. Offenbar kein Grund für die Ampel, sich nicht an deren Fußstapfen zu orientieren.
Die Liste an Enttäuschungen ist lang und ich will sie hier nicht abschließend ausführen. Um nur ein paar weitere zu nennen: Das Desaster der Verwaltungsdigitalisierung schleppt sich weiter voran. Die geplante Gesundheitsdigitalisierung berücksichtigt am wenigsten die Interessen der Versicherten. Die Eckpunkte für ein Gesetz gegen digitale Gewalt enttäuschen doppelt, weil sie auf der einen Seite einen viel zu engen Blick auf das Problem haben und auf der anderen Seite weit darüber hinaus und daran vorbei regulieren wollen.
Wo vieles noch wird, kann noch viel werden
Zwingt man sich zum Zwangsoptimismus, könnte man sagen: Wo viel noch nicht fertig ist, lässt sich vielleicht noch etwas machen, damit es gut wird. Es steht eine Reform der Hackerparagrafen an, bei denen das Justizministerium Anfang Oktober mit Expert:innen reden will. Der Ausgang ist offen. Nach dem Warten auf die Rahmenbedingungen von der EU-Ebene steht beim digitalen Verbraucherschutz in den nächsten Monaten einiges an, etwa ein Reparaturgesetz.
Das mit der New Relationship Energy mit der neuen Regierung hat sich zwar erledigt. Aber den Einsatz für eine lebenswerte digitale und analoge Welt hält das nicht auf, das haben auf die 16 Jahre Scherbendigitalisierung unter der Union nicht geschafft. Wenn es sein muss, kämpfen wir auch zum gefühlt 23. Mal gegen die Vorratsdatenspeicherung. Aber nicht nur gegen die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten, sondern auch für eine positive Vorstellung unseres Zusammenlebens braucht es die digitale Zivillgesellschaft. Denn so weitergehen, das ist klar, darf es nicht.
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