Die Bundesregierung strebt „einen umfassenden digitalen Aufbruch“ für Deutschland an. Unterstützen soll sie dabei ein 19-köpfiger Beirat. Dessen Mitglieder zeigen sich jedoch überaus frustriert. Sie mahnen eine einheitliche Strategie, klare Zuständigkeiten und ministerielle Führung an.
Nicht weniger als einen radikalen Kurswechsel forderte Bundesdigitalminister Volker Wissing (FDP) im vergangenen Sommer. „Wir müssen […] rein in die konkrete Umsetzung“. Keinesfalls dürfe man sich beim Thema Digitalisierung wieder „in großen Visionen verlieren“, so der Minister.
Den Fahrplan für die konkrete Umsetzung liefert die Digitalstrategie der Ampel-Regierung. Sie setzt das Ziel, in dieser Legislaturperiode insgesamt 18 Leuchtturmprojekte umzusetzen. Für ein Jahr begleitet der Beirat Digitalstrategie Deutschland diesen Prozess. Das 19-köpfige Gremium soll das qualitative Monitoring der Digitalstrategie übernehmen. Es nahm vor genau sechs Monaten seine Arbeit auf.
Auf Nachfrage von netzpolitik.org vermissen etliche der Mitglieder zur Halbzeit eine einheitliche Strategie, klar geregelte Zuständigkeiten und eine koordinierte Führung durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV).
Ein Kessel Buntes an vermeintlichen Lösungen
Vor allem die fehlende strategische Ausrichtung erschwere die Arbeit, sagt Henriette Litta von der Open Knowledge Foundation. Sie ist eine von sechs Mitgliedern, die die Zivilgesellschaft in dem Beirat repräsentieren. „Bei den einzelnen Themen wird es sehr schnell technisch. Dann unterbleibt oftmals die gesellschaftliche Einbettung – und damit die politische Zielsetzung“, so Litta. „Daher wissen wir zum Teil nicht einmal, welches Problem ein bestimmtes Leuchtturmprojekt der Digitalstrategie lösen soll.“
Als Beispiel nennt Litta die Nationale Bildungsplattform, die zwar über ein beachtliches Budget von 630 Mio. Euro verfügt. Was aber genau die Ziele von Bildung in Zeiten der Digitalisierung seien und wie die Plattform etwa zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen kann, sei bislang völlig unklar.
„Ich habe nicht den Eindruck, dass wir an einer Digitalstrategie mitwirken“, sagt Litta, „sondern vielmehr eine To-do-Liste mit ganz unterschiedlichen Aufgaben abarbeiten.“ Die Leuchtturmprojekte seien ein „Kessel Buntes“ mit Vorhaben unterschiedlicher Tragweite und Relevanz. Tatsächlich reichen diese von der Nationalen Bildungsplattform über ein „Ökosystem digitale Identitäten“ und dem „Digitalraum Kultur“ bis zur Digitalisierung des Spendennachweisverfahrens. „Eine Koordinierung des BMDV könnte hier helfen, mehr Struktur reinzubringen, aber das passiert bislang nicht“, so Litta.
Was erwartet das Ministerium vom Beirat?
Thomas Fischer sieht das ähnlich. Als Abteilungsleiter Grundsatz und Gute Arbeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) bringt er im Beirat die arbeitsweltliche Perspektive auf Digitalisierung ein.
„Ich bin begeistert über den Teamgeist im Beirat. Wir haben alle sehr unterschiedliche Sichtweisen und schaffen es dennoch, immer wieder gemeinsame Positionen zu finden“, so Fischer gegenüber netzpolitik.org. Allerdings hapere es „an der Wirkung nach außen“, gerade in Richtung des BMDV und anderer Ministerien. „Wir müssen immer wieder darum ringen, Einfluss nehmen zu können, auch strategisch.“
Gerade Letzteres sei jedoch bitter nötig. Denn es fehle erkennbar an einer „verbindenden Klammer“ und Gesamtstrategie, so Fischer. Zum Teil mache das BMDV den Eindruck, nicht einmal genau zu wissen, was es von dem Beirat erwarte, sagt der Gewerkschafter.
In der Rolle eines Sekretariats
Das BMDV betont dementgegen gerade die Unabhängigkeit des Gremiums. Das Ministerium nehme vor allem „eine Sekretariatsfunktion wahr“, so ein BMDV-Sprecher auf Anfrage von netzpolitik.org, etwa indem es die inhaltliche Vor- und Nachbereitung von Beiratssitzungen unterstütze.
Gründe dafür, den Prozess stärker zu strukturieren und zu koordinieren, sieht das Ministerium offenbar nicht. Sowohl die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts als auch die Kooperation mit dem Beirat seien laut Sprecher „sehr konstruktiv“.
Erste Meilensteine der Digitalstrategie habe man bereits erreicht. So werde es ab September 2023 möglich sein, „Fahrzeuge bequemer online zuzulassen“. Auch die Entwicklung der Bund-ID verlaufe vielversprechend, außerdem seien Verbesserungen bei der Smart eID in Vorbereitung. „Damit bewerten wir den Umsetzungsfortschritt insgesamt als gut“, so das Fazit des BMDV.
Zu wenig Ressourcen in den Ministerien
Gerade an den vom Ministerium genannten Vorhaben entzündete sich jedoch zuletzt zum Teil massive Kritik. Und auch einige der Beiratsmitglieder kommen zu einer anderen Einschätzung als das BMDV.
Ann Cathrin Riedel ist als Wissenschaftlerin und Vorsitzende von LOAD e.V. in den Beirat berufen worden. Als Geschäftsführerin bei der gemeinnützigen Plattform NExT setzt sie sich zudem für eine „digitale Transformation der Verwaltung“ ein. Aus dieser Warte kritisiert sie ebenfalls, dass die Umsetzung der Digitalstrategie mehr schlecht als recht koordiniert werde: „Das Digitalministerium steuert da nichts – aber sicher nicht aus Böswilligkeit, sondern wegen der fehlenden Übertragung der Aufgabe.“
Riedel wünscht sich nicht nur einen klaren Gestaltungsanspruch seitens des Digitalministeriums, sondern auch mehr Ressourcen in den Ministerien. Nur eine Handvoll Beamt:innen sei in verschiedenen Ressorts etwa für das Thema „Digitale Identitäten“ zuständig. Das sei entschieden zu wenig, so die Verwaltungsexpertin.
Zusammenarbeit per E-Mail
Weil bei alledem das große Ganze nicht erkennbar sei, drängt Ridel – wie auch andere Mitglieder des Beirats – auf baldige Gespräche mit der Staatssekretärsrunde Digitalstrategie. Die Staatssekretärsrunde begleitet und steuert, unter Vorsitz des BMDV, das Monitoring der Digitalstrategie. Laut Digitalministerium tagte sie erstmals am 30. März dieses Jahres. Auf der Agenda standen dabei unter anderem eine Aktualisierung der Digitalstrategie und die Arbeit des Beirats, so ein Ministeriumssprecher gegenüber netzpolitik.org.
Ann Cathrin Riedel würde diese Agenda gerne erweitern, um den aus ihrer Sicht zähen Austausch zwischen den Ministerien zu beschleunigen. „Im Koalitionsvertrag ist das Ziel festgehalten, dass die Ampel das Silo-Denken zwischen den einzelnen Ministerien überwinden wolle. Der digitale Aufbruch ist ein Querschnittsthema und wäre dafür eigentlich wunderbar geeignet. Im Beirat merken wir, dass das bisher kein Thema ist“, sagt Riedel zu netzpolitik.org.
Offenkundig gebe es nicht einmal eine Kollaborationsplattform, auf der die unterschiedlichen Ressorts untereinander Dateien austauschen können. „Die schicken sich dann E-Mails hin und her“, so Riedel. „Eine effektive ressortübergreifende Zusammenarbeit ist so kaum möglich. Um Effizienzen zu haben, die es auch zwischen den 18 Leuchtturmprojekten gibt, müssen wir das Thema Kollaboration und Austausch zwischen den Ministerien dringend priorisieren und überhaupt auf die Agenda setzen.“
Ernüchternder Blick unter die Motorhaube
Alexander Rabe äußert sich nach dem Blick „unter die Motorhaube der Politik“ ähnlich gegenüber netzpolitik.org. Der Geschäftsführer bei eco – Verband der Internetwirtschaft e.V. ist einer von sechs Vertreter:innen der Wirtschaft im Beirat. Seit Jahren fordere eco ein starkes Digitalministerium, so Rabe, „und ich muss sagen: zu Recht.“
Er habe den Eindruck gewonnen, die Ministerien hätten oftmals nur wenig Überblick darüber, was andere Ressorts täten. „Das ist entweder so gewollt oder systemimmanent“, sagt Rabe. Auf jeden Fall erschwere dies einen „Konsistenz-Check“ bei den angestrebten Leuchtturmprojekten.
Dafür zeigt exemplarisch die „Nationale Initiative zur KI-basierten Transformation in die Datenökonomie“ (NITD). Das Hebelprojekt wird vom Bund mit 32 Millionen Euro gefördert und soll für eine bessere Vernetzung von Daten sorgen. Verantwortet wird es von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech). Bislang ist völlig unklar, in welchem Verhältnis NITD zu anderen Leuchtturmprojekten wie dem Dateninstitut steht. Mehrere Beiratsmitglieder gaben gegenüber netzpolitik.org an, erst aus der Presse von der Initiative erfahren zu haben.
Auch die Digitalstrategie selbst hat die Bundesregierung im Laufe der vergangenen Monate verändert, ohne dies den Beiratsmitgliedern vorab mitzuteilen. Das BMDV bestätigte gegenüber netzpolitik.org, dass „die Digitalstrategie von den Ressorts regelmäßig auf Aktualität überprüft [wird], um in begründeten Fällen Anpassungen zu ermöglichen.“ Der Beirat „ist an diesem Verfahren nicht unmittelbar beteiligt“, so ein Ministeriumssprecher.
Ein Vergleich beider Versionen zeigt, dass etwa das „interoperable Bildungsökosystem“, das einen chancengleichen und barrierefreien Zugang zu digitaler Bildung anstrebt, nur noch „prototypisch“ etabliert werden soll. Wenn aber die Leuchtturmprojekte am Ende nur noch Modellcharakter haben, dann muss Digitalminister Volker Wissing eine Sorge zumindest nicht mehr umtreiben: Dass man sich bei der Umsetzung der Digitalstrategie in „große Vision“ verlieren könnte.
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