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Bildung: Warum wir ein Pflichtfach Informatik brauchen

Digitale Bildung für Kinder und Jugendliche ist aktive Kriminalprävention, sagt ein Cyberkriminologe. Informatikunterricht mindert soziale Ungleichheiten, zeigt eine Studie. Dennoch gibt es hierzulande noch immer kein einheitliches Lehrangebot. Dabei könnten wir von unserem Nachbarland Österreich lernen.

Ein weißes Gehirn, das farbig angeleuchtet wird vor einer weißen Wand
Die Schule formt unser Denken. Und deshalb brauchen wir auch digitale Grundbildung. Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Milad Fakurian

»Lückenhaft und unterbesetzt« – so bewertet eine aktuelle Studie der Heinz Nixdorf Stiftung mit dem Titel „Informatik für Alle!“ den Informatikunterricht hierzulande. Die Verfasser:innen fordern, deutschlandweit einen verpflichtenden Informatikunterricht einzuführen. Digitale und informatische Kompetenzen seien wichtig für die gesellschaftliche Teilhabe, so ihre zentrale These. Erhebungen des Nationalen Bildungspanels zeigten zudem, dass ein fächerintegrativer Unterricht nicht ausreiche, um die Leerstellen auszufüllen.

Pflichtfach Informatik fördert die Chancengerechtigkeit

Die Studie legt einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Chancengleichheit. Ein Pflichtfach Informatik könne demnach die Kompetenzunterschiede in ICT (Information and Communications Technology) zwischen Mädchen und Jungen ausgleichen. Statistische Erhebungen zufolge würden sich die ICT-Kompetenzen von Mädchen nahezu vollständig an das Niveau ihrer männlichen Mitschüler anpassen, wenn es einen verpflichtenden Informatikunterricht gebe.

Auch Kinder und Jugendliche aus wirtschaftlich benachteiligten Haushalten würden davon profitieren. Ohne verpflichtenden Informatikunterricht klaffen die ICT-Kompetenzen zwischen Jugendlichen der neunten Klasse aus sozio-ökonomisch starken Familien und solchen aus schwachen deutlich auseinander. Der verpflichtende Informatikunterricht verbessere die ICT-Fähigkeiten aller Jugendlichen dementgegen signifikant.

Würde die Informatik allerdings fächerintegrativ vermittelt, entwickelten Schüler:innen deutlich geringere Kompetenzen im ICT-Bereich als solche, die in einem eigens dafür vorgesehenen Fach unterrichtet werden. Erstere befänden sich sogar auf einem ähnlich niedrigen Kompetenzniveau wie Schüler:innen ohne jegliches schulisches Informatikangebot.

Informatikunterricht macht Lust auf mehr

Das ist aber nicht das einzige Manko. Denn das deutsche System gleicht derzeit auch noch einem Flickenteppich: Nur wenige Bundesländer bieten das Pflichtfach Informatik überhaupt an.

In zehn der insgesamt 16 Bundesländer wird Informatik als Wahlpflichtfach oder lediglich fächerintegrativ unterrichtet. Die jeweiligen Angebote unterscheiden sich erheblich hinsichtlich der Wochenstundenzahl und darin, in welchen Jahrgangsstufen das Fach angeboten werde. Den am stärksten ausgeweiteten Informatikunterricht haben laut Studie Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern im Angebot: Hier ist Informatik für einige Jahrgänge bereits Pflicht. In Bremen und Hessen gibt es in der Sekundarstufe I (Sek1) hingegen keine Möglichkeit, Informatik als Fach zu wählen.

Je nach Unterrichtsangebot in dem jeweiligen Bundesland unterscheide sich auch deutlich, welche Fächer die Schüler:innen in der Oberstufe wählen. 28 Prozent jener Schüler:innen, die in der Sek1 den verpflichtenden Informatikunterricht besuchten, wählten das Fach auch in der Oberstufe. An Schulen, die kein Pflichtfach Informatik anbieten, waren es hingegen nur 16 Prozent. In Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern wählten gar 36 Prozent der Schüler:innen Informatik in der Oberstufe, in Bremen und Hessen lediglich 9 Prozent.

Österreich macht’s vor: Pflichtfach statt integrativem Unterricht

Deutlich anders stellt sich die Lage im Nachbarland Österreich dar. Dort werden ab diesem Schuljahr junge Österreicher:innen in einem neuen Regelfach unterrichtet. Mit dem Angebot „Digitale Grundbildung“ will das österreichische Bildungsministerium (BMBWF) technische, mediale und digitale Kompetenzen von Schüler:innen stärken. Das Fach wird zunächst verpflichtend in den Klassen eins bis drei sowie in der Sek1 mit einer Stunde pro Woche gelehrt. Perspektivisch soll der Unterricht auf weitere Jahrgänge ausgeweitet werden.

Das neue Fach soll drei zentrale Fragen beantworten: Wie funktionieren digitale Technologien? Welche gesellschaftlichen Wechselwirkungen resultieren aus deren Einsatz? Und welche Interaktions- und Handlungsoptionen ergeben sich daraus für die Schüler:innen?

Die entsprechenden Inhalte sind in Österreich damit nicht länger in andere Fächer integriert, sondern werden in einer eigens dafür vorgesehen Stunde von Fachlehrkräften unterrichtet. Um dies zu ermöglichen, setzt das BMBWF auf eine mehrstufige Bildungsoffensive für Lehrkräfte: In Massive Open Online Courses (MOOC) sollen sich aktive Lehrkräfte „individuell und selbstgesteuert“ per Videokonferenz oder mittels eines neuen Moduls an Pädagogischen Hochschulen weiterbilden können. Darüber hinaus führt das Ministerium einen neuen Lehramtsstudiengang ein, der Fachlehrkräfte für die „Digitale Grundbildung“ ausbildet. 150 neue Stellen werden landesweit für das Fach eingerichtet.

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Kultusexpert:innen empfehlen informatisches Pflichtfach

Auch hierzulande wird diskutiert, ob Informatik oder ein vergleichbares Fach, verpflichtend unterrichtet werden soll – und das nicht erst seit gestern: Bereits im Jahr 1984 kritisierte Der Spiegel die unzureichenden Computerkompetenzen von Lehrenden und Lernenden an den deutschen Schulen.

Und erst vor wenigen Wochen forderten Expert:innen der Kultusministerkonferenz, bundesweit ein Pflichtfach Informatik einzuführen. Informatische Bildung sei „ein wichtiger Bestandteil für erfolgreiche Teilhabe an der digitalisierten Welt“ – „daher [sollte] Informatik als Pflichtfach in der Schule eingeführt werden“, urteilen die Expert:innen in ihrem Gutachten. Sie fordern, dass digitale Kompetenzen bereits an den Grundschulen vermittelt werden.

GEW fordert integrativen Unterricht statt Pflichtfach

Spätestens seit diesem öffentlichkeitswirksamen Appell stehen die Kultusminister:innen unter wachsenden Druck. Denn obwohl Lehrkräfteverbände, Schüler:innenvertretungen und Jugendschützer:innen schon lange eine digitale Bildungsoffensive für Deutschland fordern, ist man sich uneins über deren Gestaltung.

Auch die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) steht Informatik als Pflichtfach bislang „eher kritisch“ gegenüber, so ein Sprecher. Die Gewerkschaft setzt stattdessen auf die Verknüpfung verschiedener informatischer und medialer Bereiche im Unterricht. Informatische Bildung dürfe nicht losgelöst von Medienbildung und Gestaltungskompetenz gedacht werden, so der Sprecher in Hinblick auf die österreichische Variante. Vielmehr müsse Informatikunterricht in sozio-kulturelle und geschlechtersensible Perspektiven eingebettet werden. Würde Informatik jedoch kurzerhand in den MINT-Fachbereich inkludiert, könnten diese Anforderungen nicht erfüllt werden.

Zudem befürchtet die GEW, dass ein neues MINT-Fach zulasten des Stundenbudgets der Gesellschaftswissenschaften geht. Sie verweist auf die Dagstuhl-Erklärung, in der zwischen anwendungsbezogenen, technischen und gesellschaftlich-kulturellen Lehrinhalten unterschieden wird. So könnten zum Beispiel Inhalte zu „Fake News“ im Deutschunterricht behandelt werden, während im Matheunterricht Algorithmen behandelt würden.

Medienbildung als Kriminalprävention

Thomas-Gabriel Rüdiger sieht in schulischem Informatikunterricht große Chancen. Er ist Leiter des Instituts für Cyberkriminologie an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg und überzeugt, dass ein schulischer Fokus auf die Medienkompetenz großen Einfluss auf die Fähigkeit zum digitalen Selbstschutz bei Kindern und Jugendlichen haben würde. Gegenüber netzpolitik.org sagt er: „Jede Form einer strukturierten Vermittlung von Medienkompetenz in Deutschland an allen Schulen wäre bereits ein Gewinn“. Rüdiger plädiert daher für ein ähnliches Fach wie in Österreich: „Für mich würde die Vermittlung von Medienkompetenz an Minderjährige auch eine aktive Form von Kriminalprävention bedeuten.“

Dabei sieht der Kriminologe zwei wesentliche Herausforderungen: Zum einen müssten Minderjährige vor Übergriffen im Netz geschützt werden. Dazu zähle etwa die Aufklärung über Cybergrooming, der Umgang mit sexualisierten Aufnahmen und extremistischen Inhalten. Somit könne man im besten Fall verhindern, dass Kinder und Jugendliche Cyberkriminalität zum Opfer fielen.

Zum anderen müssten Jugendliche darüber unterrichtet werden, dass sie sich im Netz auch selbst strafbar machen können. „In diesem Jahr war erstmalig die Mehrheit der Tatverdächtigen, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik wegen kinderpornographischen Inhalten über das Tatmittel Internet auffällig wurden, selbst minderjährig“, gibt Rüdiger zu bedenken.

Zudem zahle sich eine frühe Bildung in Medienkompetenz auch langfristig aus: „Je mehr wir heute in die Vermittlung von Medienkompetenz investieren, umso medienkompetenter sind die Mitarbeiter:innen in der Zukunft, was sie im Bestfall widerstandsfähiger für Cyberangriffe macht“, so der Cyberkriminologe, „daher sollten wir alle ein Interesse an der strukturierten Vermittlung von digitalen Kenntnissen an Schulen haben.“

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Mehr Bildung für mehr Jugendschutz

Ähnlich sieht dies die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ). „Je mehr Medienangebote auf die Interaktion von Nutzerinnen und Nutzern ausgerichtet sind, desto wichtiger wird der Selbstschutz von Kindern und Jugendlichen“, teilt die BzKJ auf Anfrage netzpolitik.org mit. Kinder und Jugendliche müssten lernen, mit verstörenden Inhalten, Cybergrooming, Kostenfallen und Mobbing umzugehen und wissen, wie sie notfalls Hilfe erhalten können. Ein verpflichtender Informatikunterricht könne dabei helfen, diese Fähigkeiten zu vermitteln.

Aus Sicht der Bundeszentrale soll die Vermittlung dieser Fähigkeiten bestenfalls so früh wie möglich beginnen. „Je früher die Vermittlung dieser Fähigkeiten fester Bestandteil des Unterrichts ist, desto wirksamer ist dies aus Perspektive des Kinder- und Jugendmedienschutzes.“ Denn Kinder würden digitale Angebote immer früher nutzen. Daher sei es „überaus positiv“, wenn Kinder und Jugendliche möglichst im jungen Alter über verpflichtende schulische Angebote bei der Mediennutzung unterstützt werden.

Diese Stimmen zeigen einmal mehr, dass es endlich eine bundeseinheitliche Lösung für die Vermittlung von Informatikkenntnissen braucht. Ein solcher schulischer Unterricht hilft den Schüler:innen – beim Selbstschutz vor Cyberkriminalität, bei der Überwindung von Genderungleichheiten und beim Erlenen zentraler Fähigkeiten für das alltägliche Leben. Und er stopft endlich jene Bildungslücken, über die wir bereits seit Jahrzehnten diskutieren.


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