Die 41. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 13 neue Texte mit insgesamt 162.298 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.
Liebe Leser:innen,
diese Woche hat sich das EU-Parlament mit der Chatkontrolle beschäftigt. EU-Kommissarin Ylva Johansson war im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten (LIBE). Dort gab es kritische Fragen, die Antworten waren eher unbefriedigend bis verwirrend. Heute haben wir außerdem über ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags berichtet. Auch sie kommen zu einem vernichtenden Urteil, was die Pläne der EU-Kommission angeht. Das Ergebnis: So darf der Vorschlag nicht in Kraft treten.
Eigentlich soll der Gesetzesvorschlag Kinder schützen und Darstellungen sexualisierter Gewalt im Netz bekämpfen. Dafür will die Kommission in Kauf nehmen, dass die private Kommunikation von uns allen gescannt wird und potenziell auf dem Tisch von Ermittler:innen landet.
Die Kritik an der Chatkontrolle kommt von allen Seiten. Nicht nur von Bürgerrechtler:innen und Datenschutzaffinen. Auch von Kinderschutzorganisationen, von unserem Justizminister. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Der Tenor: Die Pläne zur Chatkontrolle wären ein unverhältnismäßiger Eingriff in unsere Privatsphäre. Noch dazu ist vollkommen unklar, wie es überhaupt funktionieren soll, Darstellungen sexualisierter Gewalt und Kontaktanbahnungsnachrichten zuverlässig aufzuspüren.
Ob die krassen Grundrechtseingriffe wirklich etwas bringen würden, ist mindestens fraglich. Noch dazu schränkt die Chatkontrolle selbst diejenigen minderjährigen Nutzer:innen ein, die sie eigentlich schützen will. Indem potenziell auch ihre private Kommunikation durchleuchtet wird und dann vielleicht Familienfotos vom Strand potenziell als strafbare Darstellungen erkannt werden. Gerade Kinder und Jugendliche brauchen vertrauliche Kommunikationswege.
Mich verärgert es, dass die Kommission in die Grundrechte aller eingreifen will und gleichzeitig Kinder- und Jugendschutz an vielen anderen Stellen vernachlässigt wird. Mich verärgert es, dass wir vor allem über die Chatkontrolle reden, während es viele direkte Maßnahmen gäbe, um den Kinder- und Jugendschutz zu stärken. Ganz ohne Eingriff in die private Kommunikation aller. Es braucht etwa ein klares Bekenntnis dazu, dass sich Ermittlungsbehörden dafür einzusetzen müssen, dass Darstellungen sexualisierter Gewalt im Netz konsequent gelöscht werden. Aber vor allem in der analogen Welt gibt es noch viel zu tun.
In Potsdam hat der Personalrat die Dienstvereinbarung für eine dauerhafte Rufbereitschaft für Kinder in Not gekündigt – wegen Personalmangel und Überlastung. „Personalnot im Jugendamt“, „Hilferuf wegen Überlastung“, „Jugendamt schlägt Alarm“: Solche Schlagzeilen sind zahlreich zu finden. Und sie verdienen noch mehr Aufmerksamkeit. Hier braucht es konsequentes Handeln und endlich die nötigen Ressourcen für diejenigen, die Kindern ganz direkt helfen können. Für diejenigen, die ansprechbar sein sollten für Probleme. Und für diejenigen in den Ämtern, Schulen, Vereinen und an anderen Stellen, denen auffällt, wenn ein Kind in Not sein könnte. Dafür mag nicht die EU-Kommission zuständig sein. Sie kann diese Probleme aber auch nicht ignorieren und stattdessen mit ihrem Entwurf die Problemdiskussion verzerren.
Die EU-Kommission sollte ihren Gesetzentwurf zurückziehen. Es wäre das Konsequenteste. Die Kritik ist so zahlreich – ich glaube kaum, dass sie mit ein paar Beschränkungen hier und ein bisschen Kontrolle da geheilt werden kann. Doch momentan wirkt es, als würde die Kommission mit vollem Tempo in falscher Richtung auf der Autobahn rasen, weiter fest davon überzeugt, dass alle entgegenkommenden, lichthupenden Kritiker:innen Geisterfahrende sein müssen. Unbeirrbar, mit dem in die Luft gereckten moralischen Zeigefinger, dass es doch um den Schutz von Kindern geht.
Den braucht es, dringend. Das zweifelt niemand an. Und gerade deswegen sollten wir nicht in den nächsten paar Jahren weiter eine ablenkende Diskussion über die Gefahren der Chatkontrolle führen müssen, um das grundrechtlich Schlimmste zu verhindern. Sondern über das, was Kinder und Jugendliche wirklich brauchen. Denn es ist höchste Zeit.
Ein schönes Wochenende wünscht euch
anna
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