Im Dezember hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Richtline zur Plattformarbeit veröffentlicht. Das Vorhaben ist ambitioniert, seine Kernforderung lautet: Erfüllen Plattformen bestimmte Kriterien, sollen sie ihre Beschäftigten wie Angestellte behandeln müssen. Damit will die Kommission Millionen Menschen aus der Scheinselbstständigkeit holen.
Derzeit arbeiten nach EU-Schätzungen 28 Millionen Menschen durch die Vermittlung von Plattformen. Diese Zahl soll in den kommenden Jahren sogar auf 43 Millionen anwachsen. Besonders viele Jobs bieten Plattformen für Transport, Essenslieferung, Haushaltsdienste oder Clickwork – in Deutschland zum Beispiel vertreten durch Uber, Lieferando, Helpling oder Clickworker.
Immer wieder kommt es zu Arbeitskämpfen bei Plattformen. Lieferando- und Gorillas-Fahrer*innen in Deutschland forderten und bekamen Betriebsräte, in den Niederlanden wollten Helpling-Arbeitskräfte festangestellt werden. Das Thema wurde öffentlich heiß diskutiert, auch vor Gericht: Die Liste mit Gerichtsprozessen wegen der Arbeitsbedingungen bei Plattformen, die die EU-Kommission zusammengetragen hat, ist über ein dutzend Seiten lang.
netzpolitik.org hat untersucht, wie Lobbyist:innen von Firmen, Branchenverbänden und Gewerkschaften versucht haben, den Entwurf zu beeinflussen. Dafür haben wir Stellungnahmen durchgelesen, die die Organisationen an die EU-Kommission geschickt haben. Sie muss für Gesetze zu Arbeitsthemen die Meinungen von Industrie und Gewerkschaften einholen. Außerdem haben wir durch eine Informationsfreiheitsanfrage an die Kommission Unterlagen zu Lobby-Treffen mit Plattformfirmen und Verbänden erhalten, die wir im Volltext veröffentlichen.
Arbeitgeber*innen-Lobby will am liebsten gar kein Gesetz
Die europäischen Arbeitgeber*innenverbände klingen großteils gleich: Sie wollen kein neues Gesetz zur Plattformarbeit, das steht dutzende Male in ihren Stellungnahmen. Die World Employment Confederation zum Beispiel „glaubt nicht, dass es angemessen oder notwendig wäre, eine zusätzliche Richtlinie oder ein anderes Gesetzgebungsinstrument vorzuschlagen.“ Die EU solle sich darauf konzentrieren, bestehende Regeln durchzusetzen.
„Es gibt keine Notwendigkeit für Aktivität der EU, besonders nicht für solche von verpflichtender Natur“, schreibt Ceemet, ein Verband von Arbeitergeber*innen in europäischer Technologie und Industrie. Wenn die EU unbedingt etwas beschließen wolle, dann sollte das zumindest keine Richtlinie sein, sondern nur eine Empfehlung. Man fürchte, dass EU-Gesetzgebung hier zu gesetzlicher Unsicherheit führen und nationale Rahmen untergraben könnte, so eine Sprecherin zu netzpolitik.org.
Es sei aus Branchensicht am besten, wenn die ganze Frage einfach den Unternehmen überlassen werden würde. „Wir sind weiterhin überzeugt, dass ein selbstregulierender Ansatz von Plattformen selbst […] der richtige Weg wäre“, so BusinessEurope, die wichtigste europäische Lobbyorganisation. Das solle kombiniert werden mit einem Forum für den Austausch zwischen der EU-Kommission, Verbänden, Plattformen und Beschäftigten. Dort könne das Thema dann besser untersucht und – „soweit möglich“ – Empfehlungen beschlossen werden.
Lieber „Dialog“ als Verpflichtungen
Möglichst wenig Regulierung fordern auch die Plattformfirmen. In einem Treffen am 17. März 2021 legten die europäischen Unternehmen Glovo, Bolt, Wolt und Delivery Hero der Kommission eine Grundsatzerklärung vor, die sie einige Monate vorher beschlossen hatten. Laut dem Protokoll des Treffens wollten sie diese dann in unverbindlichen Empfehlungen oder einem rechtlich nicht bindenden Verhaltenskodex weiterentwickeln.
Am 24. September 2021 sagten Lobbyist*innen von Bolt, Free Now und Uber, sie würden zwar dem Ziel zustimmen, Arbeitsbedingungen zu verbessern: „Scheinselbstständigkeit ist ein Problem und kann nicht akzeptiert werden.“ Als Mittel schlugen sie aber statt einem neuen Gesetz „zum Beispiel Verhaltenskodizes, Statuten, oder Förderung von Dialog“ mit ihren Fahrer*innen vor.
Auf der anderen Seite stehen die Gewerkschaften, allen voran der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC und UNI Europa. „UNI Europa lehnt die Option einer Empfehlung mit freiwilligen Instrumenten wie Verhaltenskodizes, Chartas oder Kennzeichnungen ab, die auf keine Weise geeignet sind, auf lange Sicht die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter*innen zu verbessern“, so der europäische Arm der internationalen Dienstleistungsgewerkschaft. Stattdessen solle die Kommission eine ambitionierte Richtlinie vorschlagen.
Da Dienstleistungsplattformen ein internationales Phänomen seien, schreibt der Europäische Gewerkschaftsbund, wäre es ein Schritt in die richtige Richtung, mit europaweiter Regulierung ein ebenes Spielfeld sicherzustellen. Dabei sollte aber die große Bandbreite an Beziehungen zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen in den verschiedenen Mitgliedstaaten beachtet werden.
Damit scheinen die Gewerkschaften bei EU-Kommissar Nicolas Schmit, zuständig für Beschäftigung und soziale Rechte, auf offene Ohren gestoßen zu sein: Entgegen den vielfachen Forderungen der Branchenverbände entschloss sich die Kommission, wie schon eingangs erwähnt, einen Gesetzesvorschlag vorzulegen, der den Firmen verpflichtende Vorgaben macht.
EU-Richtlinie soll zu Anstellungen führen
Ganz oben auf der Prioritätenliste der Kommission steht in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie das Vorgehen gegen Scheinselbstständigkeit. Wer über Plattformen seine Arbeitskraft anbietet, soll von Anfang an als normal angestellt gelten. Bislang müssen Arbeitskräfte häufig erst vor Gericht ziehen, um zu beweisen, dass sie scheinselbstständig sind und eigentlich eine feste Anstellung kriegen sollten. Dieses Prinzip will die EU-Kommission umkehren: Künftig müssten Firmen beweisen, dass jemand nicht die Kriterien für eine Anstellung erfüllt – andernfalls muss die Person angestellt werden.
Auch hier sind sich die Arbeitgeber*innen einig in ihrer Ablehnung. „HOTREC lehnt die widerlegbare Annahme eines Beschäftigtenstatus entschieden ab“, schreibt der europäische Dachverband des Gastgewerbes. „HOTREC lehnt auch eine Änderung in der Beweislast ab.“ Wieso sich ein Verband von Restaurantbetreiber*innen gegen ein Gesetz für Plattformarbeiter*innen einsetzt? Weil er wirtschaftliche Verluste befürchtet, wenn Lieferdienstfahrer*innen fest angestellt würden.
Hingegen betonten die Plattformfirmen Glovo, Bolt, Wolt und Delivery Hero bei ihrem Treffen im März, dass ihnen die Form eines zukünftigen Beschäftigungsmodells egal sei – „solange es einfach, harmonisiert und koordiniert ist und Flexibilität bietet.“ Entgegen den Arbeitnehmer*innen sagten die Unternehmen dort, die Fragmentierung der gesetzlichen Landschaft und Unsicherheit seien die größte Schwierigkeit.
Auch die Gewerkschaften fordern einen europäischen Ansatz. „Wir müssen uns in Richtung einer allgemeinen Annahme eines Beschäftigungsstatus bewegen“, schreibt der Europäische Gewerkschaftsbund. Dazu soll die Beweislast auf Plattformen verschoben werden: „Armeen von Anwält*innen von digitalen Plattformen werden zweifellos hart arbeiten, um zu beweisen, dass eine Arbeiter*in wirklich selbstständig ist“. Allerdings seien die zuständigen Prüfungsbehörden aktuell schon überlastet und bräuchten deshalb mehr Ressourcen.
UNI Europa schlug sogar schon Kriterien vor, nach denen entschieden werden könnte, ob eine Arbeiterin wirklich selbstständig ist: Wenn sie auch andere Leute ihre Arbeit machen lassen kann, wenn sie Aufgaben ablehnen kann, für andere Arbeitgeber*innen arbeiten und ihre eigenen Arbeitszeiten festlegen kann. Damit stützte sich die Gewerkschaft auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs.
Als Alternative bot sie andere Kriterien, die jenen eines gescheiterten Gesetzes in Kalifornien gleichen. Die bezeichnete aber sogar die Gewerkschaft selbst als „sehr umfassend“: Selbstständige dürften dann zum Beispiel keine Arbeit durchführen, die im normalen Geschäftsbereich der Auftraggeberin liegt.
Anstellung „gegen den Willen der Fahrer*innen“?
Einige Plattformen behaupteten bei Lobby-Meetings, dass ihre Arbeiter*innen gar nicht angestellt sein wollen. So sagte Bolt in einem Treffen am 1. Juni 2021, dass man auf Basis einer Umfrage bei 4.500 Fahrer*innen zu diesem Ergebnis gekommen sei. „Aufbauend auf den Ergebnissen ihrer Umfrage“, fragte Bolt die Kommission in diesem Treffen, „warum wir gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Fahrer*innen handeln würden“.
Das Gegenargument der Kommission in diesem Treffen: „Die steigende Anzahl der Gerichtsverhandlungen zum Beschäftigungsstatus von Leuten, die durch Plattformen arbeiten, ist ein starkes Zeichen, dass die bestehenden Regelungen nicht zweckmäßig sind.“
In einem Treffen am 8. Oktober antwortete Deliveroo, es gebe „immer eine unglückliche Minderheit, die diese Gerichtsverfahren verursacht, aber Deliveroo gründet sein Geschäftsmodell auf den Wünschen der Mehrheit.“
Das hat die Kommission anscheinend nicht überzeugt. Im fertigen Entwurf findet sich die grundlegende Annahme eines Beschäftigungsstatus und auch die Verschiebung der Beweislast auf die Plattformen. Die Kriterien für echte Selbstständigkeit hat die Kommission neu geschrieben, nur eins ist ähnlich formuliert wie die von UNI Europa vorgeschlagenen. Plattformen, die zwei von fünf von der Kommission formulierte Kriterien erfüllen, fallen unter die Bestimmungen.
Schaubilder statt offenen Algorithmen
Die Diskussion dreht sich auch noch um ein anderes Thema: die Regulierung von Algorithmen. In vielen Plattformunternehmen ist für Arbeiter*innen die App der Boss, ihr Arbeitsalltag wird nur durch Programme verwaltet. Die Kommission erwog schon in frühen Überlegungen zur Richtlinie, Arbeiter*innen mehr Einblick in die Entscheidungsprozesse dieser Programme zu geben.
Das fanden Arbeitgeber*innen nicht so gut. „Es gibt keine Notwendigkeit für eine besondere EU-Initiative im Bereich von algorithmischem Management für Plattformarbeit, da die Kommission schon einen Vorschlag für eine Verordnung zu Künstlicher Intelligenz veröffentlicht hat, der auch das Beschäftigungsumfeld erfasst“, so Ceemet. In der Datenschutzgrundverordnung und der Plattform-zu-Geschäft-Verordnung gebe es schon Regulierung zu diesem Thema, die sollte besser angewandt werden.
Algorithmen könnten geschäftlich heikle Informationen enthalten und seien für Nichtexperten kaum verständlich, schreibt Ceemet weiter. Sie sollten daher nicht veröffentlicht werden. Bei ihrem Treffen mit der Kommission im März 2021 erklärten Glovo, Bolt, Wolt und Delivery Hero, es gebe auch Urheberrechtsprobleme mit der Veröffentlichung von Algorithmen. „Aber Plattformen wären gerne bereit, Schaubilder zu veröffentlichen, die zeigen, wie Algorithmen funktionieren.“
Der Europäische Gewerkschaftsbund fordert dagegen für Arbeiter*innen und für Gewerkschaften Zugang zu Algorithmen: „Die Arbeiter*innen sollen wissen, welche Daten gesammelt werden, warum sie gesammelt werden, wo sie gespeichert werden und wie sie genutzt werden, um ihre Arbeit zu kontrollieren.“
UNI Europa geht im Bereich von algorithmischer Überwachung noch einen Schritt weiter. Fortgeschrittene Analytik könne Biologie, Verhalten und Emotionen messen, so die Gewerkschaft. „Algorithmische Überwachung scannt nicht nur passiv, sondern ‚scraped‘ die persönlichen Leben von Arbeiter*innen, baut aktiv ein Bild und trifft dann Entscheidungen.“ Diese Art von Überwachung solle deshalb verboten werden.
Auch in diesem Bereich ist der Entwurf der Kommission näher an den Vorstellungen der Gewerkschaften dran: Plattformen sollen darüber informieren müssen, was sie wie überwachen. Diese Informationen müssten sie auch nationalen Behörden und Vertreter*innen der Arbeiter*innen zugänglich machen. Außerdem gibt es eine ganze Liste, was Plattformen nicht mit Daten machen dürfen und wie gegen automatische Entscheidungen vorgegangen werden kann.
Industrie ist enttäuscht über Kommissionsentwurf
Als die Kommission am 9. Dezember 2021 ihren Entwurf für die Richtlinie veröffentlichte, waren die Reaktionen klar verteilt. „Wir bereuen den Weg, den die Kommission in Sachen Plattformarbeit gewählt hat. Die Kommission hat sich entschieden, ein politisches Statement zu machen, statt eine ausgewogene Lösung für Plattformen, für Arbeiter*innen und ihre Klient*innen vorzuschlagen“, sagte der Generaldirektor von BusinessEurope in einer Pressemitteilung. Ceemet pochte weiter darauf, dass Plattformarbeit von Mitgliedstaaten statt von der EU reguliert werden sollte.
HOTREC hatte einige Kompromissideen: Es könnten zum Beispiel mehr als zwei der Kriterien nötig gemacht werden, um Scheinselbstständigkeit festzustellen, oder Arbeiter*innen sollten weiter als selbstständig gelten, während Plattformen versuchten, ihren Status zu belegen. Die World Employment Confederation schrieb auf Anfrage von netzpolitik.org, man halte eine eigene Richtlinie zu Plattformarbeit nun für angemessen. Auch die Annahme eines Beschäftigtenstatus „kann ein angemessener Weg vorwärts sein“, so der Arbeitgeber*innenverband.
„Wir sind besorgt über die Auswirkungen, die dieser Vorschlag auf Rider, Restaurants und die EU-Wirtschaft allgemein haben könnte“, schrieben die europäischen Lieferunternehmen zusammen. Sie verwiesen außerdem auf eine Studie, nach der bis zu eine Viertelmillion Fahrer*innen ihre Arbeit im Liefersektor verlieren könnten. Diese Studie hatten die Unternehmen selbst in Auftrag gegeben.
Die Plattformen selber äußerten sich aber positiver: Glovo hieß den Entwurf als „positiven Schritt vorwärts“ willkommen und hoffte, die Richtlinie würde zu weniger Klagen im Plattformbereich führen. „Wolt hat sich immer für Regulierung von Plattformarbeit eingesetzt und begrüßt daher den Vorschlag der EU-Kommission“, so ein Vertreter von Wolt auf Anfrage von netzpolitik.org. Die Kriterien der Kommission seien jedoch zu unscharf. Im Bereich algorithmischen Managements fordere Wolt mehr Schutz für Selbstständige, außerdem würde man mit einem eigenen Transparenzbericht bereits erste Schritte in Richtung mehr Transparenz gehen.
„UNI Europe hieß die Einbeziehung wichtiger Gewerkschaftsforderungen willkommen“, hieß es auf Gewerkschaftsseite. „Die Freifahrt für Uber, Deliveroo und Amazon und ihre Spießgesellen kommt endlich an ihr Ende“, so der Europäische Gewerkschaftsbund. Die Scheinselbstständigkeitskriterien seien aber ein Erfolg der Plattformlobby gewesen – ein Problem, das es in den kommenden Verhandlungen zu lösen gelte.
Denn die Kommission hat ihren Entwurf, aber damit geht die Gesetzgebung nur in die nächste Runde. Nun müssen sich Parlament und Rat der EU auf ihre Positionen festlegen. Berichterstatterin des Parlaments ist die italienische Sozialdemokratin Elisabetta Gualmini, sie hat sich am 14. April bereits mit verschiedenen Beteiligten getroffen.
Arbeitgeber*innen, Gewerkschaften und Plattformunternehmen werden weiter mitreden, bis es eine endgültige Entscheidung zur Richtlinie für Plattformarbeit gibt. Ob und wie genau sie verabschiedet wird, und wie stark die Umsetzung in nationales Recht durch die EU-Staaten ausfallen wird, steht noch offen.
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