Während der Kolonialzeit spielte die Arbeit der Menschen in den Kolonien die wichtigste Rolle bei der Schaffung von Wohlstand für die Kolonialmächte. Dies ging mit enormen menschlichen Kosten und Ausbeutung einher. Die Menschen in den Kolonien wurden jedoch weder für die Ausbeutung entschädigt, die sie erdulden mussten. Noch wurde ihre wichtige Rolle gebührend anerkannt, die sie bei der Schaffung von Wohlstand für den Westen gespielt haben.
Wenn heute die Digitalisierung Arbeitsplätze im gesamten globalen Süden verteilt, sehen wir, dass etwas Ähnliches passiert.
Wie dumme Autos ein bisschen „intelligent“ werden
Es vergeht kaum eine Woche ohne Nachrichten über Durchbrüche in der Künstlichen Intelligenz und darüber, wie „intelligente“ Algorithmen Aufgaben übernehmen können, die bisher nur von Menschen erledigt werden konnten. Doch trotz der hochtrabenden Sprache, die IT-Unternehmen oft verwenden, sind Maschinen kaum intelligent und können nicht selbständig denken. Ein ungeschulter Algorithmus für maschinelles Lernen ist „wie ein Sportwagen ohne Räder: Er sieht zwar schön aus, aber er bringt einen nicht weiter – er ist im Grunde nutzlos“, schreibt der Technologieforscher Maximilian Gahntz. Diese Maschinen benötigen manuell markierte Bilder und menschliche Arbeit, die der Künstlichen Intelligenz beibringt, wie sie zu arbeiten hat.
Wenn man jedoch an maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz denkt, denkt man selten an die Rolle, die Afrika und der Rest des globalen Südens spielt.
Nehmen wir zum Beispiel Brenda, eine alleinerziehende Mutter, die in Kibera lebt, dem größten städtischen Slum Afrikas. Wie die BBC berichtet, arbeitet sie in einer Datenetikettierungsfirma in Nairobi, Kenia, und markiert Menschen, Autos, Straßenschilder, Fahrbahnmarkierungen und den Himmel in unzähligen Bildern. Diese markierten Bilder werden dann in Systeme der Künstlichen Intelligenz für selbstfahrende Autos eingespeist, damit diese Autos Objekte im wirklichen Leben erkennen können.
Viele dieser Arbeiten werden heute von westlichen Technologieunternehmen zunehmend in Länder in Afrika südlich der Sahara und in Südostasien ausgelagert, da diese Länder Zugang zu billigen Arbeitskräften bieten. US-Firmen wie Samasource, Mighty AI, Scale AI und Amazons Mechanical Turk sind einige der bekannteren Unternehmen, die diese Arbeit in diese Länder auslagern. Diese Firmen arbeiten für Kunden wie Facebook, Google, Microsoft und Yahoo.
Gleichzeitig ist die Auslagerung digitaler Arbeit in den globalen Süden untrennbar mit ausbeuterischen Arbeitspraktiken ausländischer Unternehmen verbunden. Der digitale Arbeitsmarkt in diesen Regionen ist durch niedrige Löhne, harte Arbeitsbedingungen, Entfremdung, Einkommensunterschiede, Rassismus, Stress und fehlende globale Anerkennung gekennzeichnet.
Einkommensunterschiede und Entfremdung von der Arbeit
Digitalarbeiter aus dem Globalen Süden verdienen dabei nur einen winzigen Bruchteil der Erträge, die durch ihre Arbeitskraft erzielt werden. Das Unternehmen Samasource, auch bekannt als Sama, das Kunden wie Google, Microsoft, Facebook und Yahoo beliefert, verdiente 2019 beispielsweise 19 Millionen US-Dollar – was an sich nicht viel Geld ist, wenn man es mit dem vergleicht, was die großen Auftraggeber aus dem Silicon Valley jedes Quartal einnehmen. Aber die Arbeiter bei Sama verdienten nur etwa 8 US-Dollar pro Tag. Auch wenn 8 US-Dollar in bestimmten Regionen des Globalen Südens ein existenzsichernder Lohn sein mag, besteht nach wie vor ein massives Missverhältnis zwischen dem, was diese digitalen Arbeiter verdienen, und dem, was die westlichen Unternehmen an Gewinnen erzielen.
Die meisten dieser Länder leiden unter hohen Armutsquoten. Daraus ergibt sich eine große Reserve an Arbeitskräften, die niedrig bezahlte Jobs annehmen. In Kenia leben beispielsweise rund 36 % der Bevölkerung unterhalb der internationalen Armutsgrenze. In Uganda, einem weiteren Technologiezentrum südlich der Sahara, gelten rund 28 % (von insgesamt 44 Millionen) der Gesamtbevölkerung als arm. In Indien, einem weiteren wichtigen Zielland für die Auslagerung von Arbeit, leben 68 % von mehr als 1,3 Milliarden Menschen in Armut. Das Vorhandensein großer Reserven an arbeitslosen oder geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern verschafft diesen Unternehmen die Oberhand bei der Festlegung der Beschäftigungsbedingungen.
Die Ausbeutung hört nicht bei den niedrigen Löhnen auf. Die Beschäftigten in der Datenetikettierungsbranche sind „langweiliger“, „repetitiver“ und „nicht enden wollender Arbeit“ ausgesetzt, wie es die BBC beschreibt. Sie berichten, „wie sie unter Druck stehen, schnell zu arbeiten, um die Unternehmensziele zu erreichen, was zu weniger Pausen führt“. Selbst wenn einige von ihnen als Freiberufler von zu Hause aus arbeiten, stehen sie unter ständiger Überwachung durch eine Webcam, die sie beobachtet. Die Forderung, stundenlang beschäftigt zu sein, hinterlässt „eine gewisse Belastung für Augen und Körper“.
Eine Studie, die in der Datenetikettierungsbranche in fünf subafrikanischen Ländern durchgeführt wurde, ergab, dass die Beschäftigten mit einer starken Entfremdung von der Arbeit konfrontiert sind: Ihnen wird nie gesagt, was der Zweck oder das Ziel ihrer Arbeit ist. Auf die Frage, warum sie die Bilder beschriften, antwortete ein Arbeiter: „Sie sagen es mir nicht; sie wollen nur, dass viele Bilder beschriftet werden“. Anwar und Graham, die Autoren dieser Studie, stellen fest, dass die Arbeiter von ihrer Arbeit nicht stärker entfremdet sein könnten“, da sie Produkte herstellen, die sie „wahrscheinlich nie sehen oder benutzen werden“.
Profite vor Menschen
Neben der Bereitstellung digitaler Arbeitskräfte für die Datenetikettierung übernehmen Arbeiter aus mehreren Ländern des Globalen Südens zunehmend die berüchtigte, schwer erträgliche Arbeit der Moderation von Social-Media-Inhalten – eine Arbeit, die oft genug von denselben Unternehmen aus dem Westen angeboten wird.
Sama beispielsweise ist in Nairobi tätig, das sich in letzter Zeit zum Drehkreuz für die Moderation von Facebook-Inhalten in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara entwickelt hat. Im dortigen Büro von Sama sitzen rund 200 Mitarbeiter vor Computerbildschirmen, auf denen sie Videos von Morden, Vergewaltigungen, Selbstmorden und sexuellem Kindesmissbrauch auf Facebook ansehen müssen. Facebook hat diese Arbeit über Unternehmen wie Sama in diese Länder ausgelagert. Diese Arbeiter fungieren als eine Art Social-Media-Frontarbeiter, die sich solche drastischen Inhalte auf Facebook ansehen und sie entfernen, bevor sie von einem durchschnittlichen Nutzer gesehen werden.
Für die brutale und „psychisch traumatisierende“ Arbeit, die diese Moderatoren leisten, zahlte Sama einigen von ihnen bis vor kurzem nur 1,50 Dollar pro Stunde, wie eine Untersuchung von Time ergab. „Die Arbeit, die wir verrichten, ist eine Art mentale Folter“, sagte ein Mitarbeiter, der derzeit als Facebook-Moderator für Sama arbeitet. „Ich lebe von der Hand in den Mund. Ich kann nicht einen Cent sparen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich kündigen möchte. Aber dann frage ich mich: Was wird mein Baby essen?“
Die Sama-Beschäftigten beklagen auch, dass das Unternehmen ihnen keine Pausen gönnt. Insgesamt herrscht ein Klima der Einschüchterung und Unterdrückung des Rechts auf gewerkschaftliche Organisierung. Daniel Motaung, ein Angestellter von Sama, wurde entlassen, weil er versucht hatte, eine Gewerkschaft zu gründen. Sama beschuldigte ihn, Maßnahmen zu ergreifen, die die Beziehung zwischen Sama und Facebook einem „großen Risiko“ aussetzen würden.
Digitaler Kolonialismus und Lukrativität des Arbeitsmarktes im Globalen Süden
Diese Schilderungen stehen stellvertretend für weit verbreitete Ausbeutungspraktiken im Informations- und Kommunikationssektor; Arbeit, die ausgelagert in den Ländern des Globalen Südens ausgeführt wird. Die Debatte über die Ausbeutung und den Profit der digitalen Arbeitskräfte aus dem Globalen Süden wird zunehmend Teil der Debatte über den digitalen Kolonialismus. Wissenschaftler und Aktivisten sprechen über die Praktiken der Ausbeutung von Arbeitskräften aus der Kolonialzeit, die auch heute noch fortgesetzt werden und das weltweite Wohlstandsgefälle verfestigen.
Neben dem scheinbar unendlichen Angebot an billigen Arbeitskräften spielt auch die schwache Arbeitsgesetzgebung in vielen Ländern des globalen Südens eine entscheidende Rolle. Ein Experte für die südafrikanische Business-Outsourcing-industrie erklärte, dass Änderungen der Arbeitsgesetze, die Unternehmen dazu ermutigen, Arbeitnehmern unbefristete Verträge anzubieten, die Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit der südafrikanischen Unternehmen beeinträchtigen können. Ähnliche Bedenken wurden auch von den digitalen Arbeitnehmern selbst geäußert. Einige von ihnen behaupten, dass eine Regulierung des Marktes und damit die Einführung strengerer Arbeitsgesetze dazu führen könnte, dass Arbeitsplätze in ein anderes Land verlagert werden.
Aber selbst wenn es Vorschriften gibt, ist deren Durchsetzung eine ganz andere Sache. In einem kürzlich veröffentlichten Schreiben beschuldigte der zuvor erwähnte und von Sama entlassene Daniel Motaung seinen früheren Arbeitgeber, gegen verschiedene kenianische Gesetze verstoßen zu haben, unter anderem wegen unsicherer und unfairer Arbeitsbedingungen. Es wird wohl ein Gericht entscheiden müssen, ob diese Anschuldigungen tatsächlich zutreffen. Aber schwache Institutionen, unterbesetzte Behörden und grassierende Korruption in weiten Teilen des Globalen Südens führen dazu, dass die reichen Unternehmen zumeist die Oberhand behalten.
Globaler Wettlauf nach unten
Letztlich stehen die Arbeitnehmer im Globalen Süden jedoch vor einer weiteren und größeren Herausforderung. Da die Arbeitsplätze aufgrund der zunehmenden Internetverbreitung über die ganze Welt verteilt werden, konkurrieren die Arbeitnehmer heute nicht nur auf lokaler oder nationaler Ebene miteinander, sondern auf globaler Ebene. Infolge der hohen Armut und Arbeitslosigkeit müssen sich die Arbeitnehmer mit schlechten Arbeitsbedingungen zufrieden geben. Auf diese Weise unterbieten sich die Arbeitnehmer weltweit gegenseitig.
Während das Internet für manche eine befreiende Technologie ist, schafft es neue Wege für die Ausbeutung in großem Umfang, verschärft die bestehenden Ungleichheiten und erzeugt neue. Solange es keinen Mechanismus gibt, den man als globale Gewerkschaft für digitale Arbeitnehmer bezeichnen könnte, die ihre Rechte schützt und vertritt, werden diese Anreize bestehen bleiben und der Wettlauf nach unten wird weitergehen. Das Fehlen eines solchen Mechanismus oder etwa verbindlicher Mindestlohnstandards ermöglicht es den globalen Unternehmen, die strukturellen Ungleichheiten im globalen Süden mit großer Leichtigkeit auszunutzen.
Digitaler Kolonialismus
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über digitalen Kolonialismus. Wir werden verschiedene Themen behandeln, die mit der Dominanz einer Handvoll mächtiger Länder und großer Technologieunternehmen im digitalen Raum des globalen Südens zusammenhängen. In den letzten Jahren haben Wissenschaftlerinnen und Aktivisten zunehmend darüber geschrieben, wie diese Handvoll Firmen digitale Technologien nutzen, um eine sozio-politische und wirtschaftliche Vorherrschaft zu erlangen, die die Souveränität und die lokale Regierungsführung in den Ländern des globalen Südens untergräbt.
Einige Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als digitalen Kolonialismus. Sie argumentieren, dass sich zwar die Art und Weise, das Ausmaß und die Kontexte geändert haben mögen, die dem Kolonialismus zugrunde liegende Funktion des Aufbaus von Imperien, der Wertschöpfung, der Ausbeutung von Arbeitskräften und der Aneignung jedoch dieselbe geblieben ist.
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