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EU-Informationsfreiheit: Blöd der Lobbyist, der jetzt noch E-Mails schreibt

Ursula von der Leyen
Als Kommissionschefin macht Ursula von der Leyen große Deals am kleinen Bildschirm – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / photothek

Die EU-Kommission stuft SMS und Nachrichten über Messenger wie WhatsApp und Signal grundsätzlich nicht als Dokumente ein – und nimmt sie damit von der Informationsfreiheit aus. Solche Nachrichten enthielten keine wichtigen Informationen über die Politik und Entscheidungen der Kommission, schreibt EU-Kommissionsvizechefin Věra Jourová in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der niederländischen Abgeordneten Sophie in ‚t Veld. Sie müssten daher weder im Dokumentenarchiv der EU aufbewahrt noch auf Anfrage herausgegeben werden.

Anlass für die Frage bot ein Vertrag über 1,8 Milliarden Dosen Impfstoff mit Pfizer. Den Milliardendeal eingefädelt hatte Kommissionschefin Ursula von der Leyen im Frühjahr höchstpersönlich mit Pfizer-Chef Albert Bourla – und zwar über Anrufe und Textnachrichten, wie die New York Times berichtete. Netzpolitik.org stellte daraufhin eine Anfrage nach den Nachrichten nach dem Transparenzgesetz der EU, der Verordnung 1049/2001 über den Zugang zu Dokumenten.

Die Kommission weigert sich allerdings, die Nachrichten herauszugeben. Und das, obwohl zahlreiche Abgeordnete und NGOs mehr Transparenz rund um die Impfstoffankäufe fordern.

EU-Verordnung: „Unabhängig von Form des Datenträgers“

Dabei ist der Gesetzestext eindeutig: Die EU-Verordnung spricht in ihrer Definition eines Dokuments ausdrücklich von „Inhalten unabhängig von der Form des Datenträgers“. Das gelte für Dokumente auf Papier, aber auch in elektronischer Form, sowie Ton- und Bilddokumenten. Darunter fallen also nicht nur Textnachrichten, sondern selbst TikTok-Videos.

Bislang wand sich die Kommission allerdings um eine klare Ansage zu SMS und Messenger-Nachrichten. In der Ablehnung unserer Anfrage hieß es: „Es konnten keine Dokumente gefunden werden, die in den Geltungsbereich Ihrer Anfrage fallen.“ Kein Wunder, wenn Nachrichten gar nicht erst als Dokumente eingestuft werden.

Kürzlich hat Kommissionsvizepräsidentin Jourová neue Leitlinien für den Dokumentenzugang angekündigt. Ihr Team arbeite an klaren Kriterien, wann Nachrichten als Dokument gelten sollten, sowie an einer technischen Lösung, um solche Nachrichten zu speichern. Doch zugleich sagte Jourová, sie glaube nicht, dass Ursula von der Leyen oder sie selbst jemals Entscheidungen über Kurznachrichten getroffen hätten, „die in Stein gemeißelt sind“. Es handle sich vielmehr um „Zusatzkommunikation“.

Was wäre Merkel ohne ihre SMS?

Überhaupt archivieren will die Kommission nach heutiger Auskunft nur Dokumente, die ihre Arbeit betreffen und die „wichtig und nicht kurzlebig“ sind. Letzteres treffe für Textnachrichten nicht zu. Genau hier wird die Argumentation aber fadenscheinig: Denn so pauschal lässt sich das nicht sagen. Wie bedeutsam solche Nachrichten sein können, verrät die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Sie gab kürzlich Whatsapp-Nachrichten ihrer Beamten mit der libyschen Küstenwache heraus, in der sie sich über Boote von Geflüchteten vor der Küste absprachen.

Ebenso bedeutsam erscheint es, wenn Medien über Absprachen der EU-Kommission zu Milliardendeals mit Impfstoffen berichten, wie oben erwähnt, oder wenn bei einem EU-Gipfel ein Bailout für Griechenland über SMS vereinbart wird.

In Deutschland macht die Relevanz von Handy-Nachrichten niemand deutlicher als Angela Merkel, deren Kanzlerschaft ohne SMS praktisch undenkbar scheint. Doch auch in Deutschland wehren sich Behörden, ihre Textnachrichten herauszugeben. Von der Leyens Weigerung, als deutsche Verteidigungsministerin die Nachrichten von ihrem Diensthandy einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu übergeben, beschäftigte sogar die Justiz.

Nun wird deutlich: Die Kommission unter Von der Leyen möchte die Transparenz in dem Bereich drastisch einschränken. Die generelle Weigerung, Handy-Nachrichten zu archivieren, schafft ein Schlupfloch, dass sogar vom Weltraum aus sichtbar ist. Öffentliche Ankäufe mit Milliardenvolumen, Abstimmung zwischen Beamten, Austausch mit Lobbyisten – all diesen Dinge können nun intransparent ablaufen, ohne Zugangsrecht der Öffentlichkeit. Die EU-Kommission macht damit einen Schritt zurück, weit hinter das seit über zwei Jahrzehnten geltende Prinzip der Transparenz.

Es geht nicht mehr nur um 160 Zeichen

Auch ignoriert die Kommission das geänderte Kommunikationsverhalten. Messenger-Nachrichten sind keine 160 Zeichen langen Mini-Texte mehr, sondern ersetzen im Behördenalltag immer mehr E-Mail. In Messengern kann man Dokumente anhängen, Bilder und Videos. Diese mittlerweile weltweite Form des Nachrichtenaustausches nur als „Zusatzkommunikation“ zu bezeichnen, blendet nicht nur aus, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Nein, sie ist eine Hilfskonstruktion, um Regierungshandeln in der EU zu verschleiern und intransparent zu machen.

Die Brüsseler Behörde setzt damit ein gefährliches Signal: In Zeiten, in denen Coronaleugner von Verschwörungen der Mächtigen raunen, und autoritäre Regierungen in Ungarn und Polen Milliarden Euro an EU-Geld verteilen, braucht die EU mehr Transparenz, mehr öffentliche Teilhabe, nicht weniger. Wenn das Medium zum fadenscheinigen Vorwand gerät, den Zugang zum Inhalt einzuschränken, gibt die Kommission den Autoritären hingegen sogar ein Vorbild, wie man die Öffentlichkeit hinters Licht führt.


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