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Dynamicland: Die Arbeit an einem revolutionären digitalen Medium

Ein Haufen bunter Lego-Bausteine.

Die Big Player des Silicon Valley, von Microsoft über Apple bis zu Google, prägen maßgeblich die Entwicklung der Computerindustrie und damit auch unsere Vorstellungen und Beziehungen zu digitalen Medien. Der Laptop in Eigenbesitz und das tragbare Smartphone haben sich weltweit durchgesetzt. Doch schon vor der Entwicklung der heute omnipräsenten digitalen Medien verfolgten Visionär:innen eine ganz andere Idee. Bis heute arbeiten Forschungsgruppen und Subkulturen des Silicon Valley an Alternativkonzepten zu den gängigen Computern.

Die Dynamic Media Group ist dabei besonders radikal. Mit ihrem Projekt „Dynamicland“ lässt sie das Konzept des Computers mit Bildschirm und Tastatur hinter sich und schafft einen gemeinsamen Raum, um ein fundamental neues Medium zu entdecken. Ein solcher Raum entsteht derzeit in Oakland, Kalifornien. Das ganze Gebäude, in dem die Forschungsgruppe arbeitet, ist das Projekt Dynamicland und damit der Computer selbst. Dieser soll für alle zugänglich sein und damit nicht kommerziell. Ingenieur:innen, Student:innen, Künstler:innen und viele mehr können dort zusammenkommen, um interaktiv Programme zu entwickeln und Ideen weiterzugeben. Das Dynamicland soll so die Kluft zwischen Programmierer:innen und Nutzer:innen überbrücken. Mit ihrem egalitären Ansatz will die Gruppe zurück zu den Anfangsideen der Computer-Revolution – und schafft einen radikalen Gegenentwurf zu den Zukunftsplänen der Tech-Elite aus dem Silicon Valley.

Eine Menge Papierschnipsel mit Punkten

Der Sozialanthropologe und Ethnograf Götz Bachmann befasst sich seit 2015 mit der Dynamic Media Group. Er nennt sie aufgrund ihres fundamentalen Ansatzes auch „Radikale Ingenieure“.

Möchte man verstehen, was das Dynamicland ist, müsse man das Projekt selbst besuchen, da es weder mit Worten noch mit Bildern erklärbar sei. So lautet das Selbstverständnis der Dynamic Media Group. Doch Bachmann, der die Gruppe mehrfach besuchte, schafft es, seine Eindrücke gegenüber netzpolitik.org greifbar zu machen. Die Basis des Dyamiclands ist ein ungefähr 200 Quadratmeter großes Loft. In diesem Raum arbeitet die Forschungsgruppe – mal mit, mal ohne Besuch – an einer neuen Art des Computers. Anstatt vor Bildschirmen zu sitzen und tausende Zeilen an Programmiercode zu schreiben, arbeiten die Visionäre mit Objekten, die man anfassen kann.

Diese Illustration erschien 2013 in einem Dokument, das die Grundsteine für das Projekt „Dynamicland“ legte. (Screenshot) - Alle Rechte vorbehalten Bret Victor

Überall im Raum sind verschiedene physische Objekte und Papierschnipsel mit aufgeklebten Punkten verteilt. Die Punkte bilden ein Identifikationssystem für die Kamera, die den Raum überblickt. Außerdem sind auf den Papierstücken ein paar kurze Codes geschrieben, die erklären, was dieses bestimmte Objekt kann. Wenn ein:e Programmierer:in einen Papierschnipsel bewegt, registriert die Kamera durch die aufgeklebten Punkte die Bewegung und ein Computer erfasst diesen Prozess. Zusätzlich kommt ein Projektor zum Einsatz, der mit Licht mit den Objekten interagiert.

Die Kombination aus Papieren mit Punkten, Kamera, Projektor und computergestützten Rechnungen ergibt eine sogenannte objektorientierte Umgebung. Sie ist eine physische Umsetzung der jahrzehntealten Disziplin des objektorientierten Programmierens (OOP). Vereinfacht erklärt: Der Prozess, der sich sonst auf dem Bildschirm abspielt, findet hier im Raum statt.

Computer ohne Kasten

„Trotz der offensichtlich nicht ganz simplen technischen Aufstellung hatte das ganze Setting eine spielerische Anmutung und Low-Tech-Charakter“ beschreibt Bachmann seine Eindrücke vom Dynamicland-Besuch. „Zumindest dann, wenn man dies mit den Hochglanz-Demos verglich, die normalerweise in Ingenieurlaboren zu erwarten sind.“

Die Tüftler:innen können auch andere Gegenstände in den Programmierprozess einbeziehen. Diese Art des kollektiven Programmierens im Raum ist dadurch sehr dynamisch und interaktiv: Sowohl von Mensch zu Mensch, als auch von Mensch zu Objekt. Bret Victor, der Leiter der Dynamic Media Group, stellt auf Twitter die neusten Projekte vor: 

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Der ganze Raum funktioniert wie ein Computer, in dem man herumlaufen kann. Laut Bachmann beschreiben die Visionär:innen das Dynamicland als „Computer with no box“, also ein Computer der sich über den ganzen Raum erstreckt, anstatt auf einen Kasten begrenzt zu sein. Die Nutzer:innen kommen somit weg vom Bildschirm und finden sich stattdessen im analogen Raum zusammen um dort mit echten Gegenständen zu arbeiten. Götz Bachmann schreibt in einem Artikel:

So wurde Dynamicland zur erfahrbaren Kontrastfolie all dessen, was wir uns für gewöhnlich unter digitalen Medien vorstellen, seien dies nun Smartphones, soziale Netzwerke oder Virtual Reality-Brillen.

Zurück zu den Ursprüngen der Computerrevolution

Das Dynamicland verfolgt damit die ursprüngliche Idee des Internets: Der freie, und damit nicht-kommerzielle, Zugang zu Informationen für alle. Das digitale Medium, das sie gemeinsam entwickeln, soll niemand besitzen und kann somit auch nicht vermarktet werden. Dadurch bekommt das ganze Projekt einen antikapitalistischen Anstrich. Bachmann erklärt, dass die Gruppe Dynamicland als egalitären Gegenentwurf zu den Produkten und Strukturen des Silicon Valley sehe. Hier arbeitet seit neuestem etwa Facebook-Gründer Mark Zuckerberg an seiner nächsten Evolutionsstufe des Internets: Das Metaversum soll ein neuer virtueller Raum werden, in dem sich Nutzer:innen treffen können – wenn sie sich die entsprechende Hardware und die Nutzung der Dienste leisten können.

Gleichzeitig sei die Forschungsgruppe um Victor mit wichtigen Akteuer:innen aus der Tech-Szene vernetzt, so Bachmann. Deswegen könne man sie als Subkultur des Silicon Valley sehen – wenn auch als sehr radikale. Diese Subkultur begann schon in den 1960er und 1970er Jahren mit Alan Kay und Douglas Engelbart zu blühen.

Beide legen mit ihrer Arbeit wichtige Grundsteine für die Entstehung und Entwicklung des Dynamiclands. Engelbart ist ein Computer-Visionär, der in den Maschinen ein neues Medium sah, um die intellektuelle Denkarbeit von Menschen zu erleichtern und so Lösungen für drängende globale Probleme, etwa den Bevölkerungswachstum, zu finden. Er spürte den Wunsch, die Welt zu verbessern. Dazu wollte er das Potenzial des Computers, der bisher nur als große Rechenmaschine verwendet wurde, weiterentwickeln. Im Jahr 1968 erfand er die Computermaus und stellte ein interaktives Computersystem vor, das auch Texte, Bilder und Videos darstellen konnte. 

Alan Kay ist eine weitere legendäre Figur in der Computergeschichte. Zusammen mit der Informatikerin Adele Goldberg prägte Kay im Jahr 1977 mit dem sogenannten „dynamic medium“ die Vision des heutigen Computers. Im Jahr 2013 initiierte er die Forschungsgruppe um Bret Victor, die mit der Vorarbeit von Dynamicland begonnen habe, erzählt Götz Bachmann. Ähnlich wie Engelbart erkenne Victor das Potenzial eines Computers, den Menschen in seiner Arbeit zu unterstützen. Allerdings kritisiert er, dass man selbst wie ein Computer denken müsse, um ihn überhaupt erst bedienen zu können. Damit spielt er auf die technische Programmiersprache an. Deswegen formulierte Alan Kay im Jahr 1969 das Ziel: 

„Das Gerät muss (in jeder Hinsicht) so verfügbar sein wie ein Rechenschieber, die Dienste dürfen nicht esoterisch sein (sie müssen privat erlernbar sein), und die Transaktionen müssen Vertrauen erwecken“.

Andernfalls erzeuge der Computer eine technische Elite, angeführt von Computernerds. Das baue eine Hierarchie zwischen den Entwickler:innen und den Nutzer:innen auf – oder, anders gesagt, zwischen den Tech-Unternehmen und den Konsument:innen. Der spielerische Ansatz und die leichte Bedienbarkeit des Dynamicland sind Ausdruck dieser politischen Überzeugung.

Was noch nicht ist, kann noch werden

Bret Victor kommt zu dem radikalen Schluss, der Mensch müsse wieder in den 70er Jahren anknüpfen und ein „fundamental neues Denkwerkzeug“ schaffen, wie es Bachmann beschreibt. Und genau das entsteht mit Dynamicland: Ein Raum, in dem Menschen gemeinsam lernen und neue computergestützte Projekte entwickeln können. Dynamicland ist damit ein Prozess, bei dem sich die Entwickler:innen dem annähren, wovon sie glauben, sie suchen es. Dieses Endziel ist noch nicht greifbar, sondern bleibt vielmehr eine Vision. Götz Bachmann meint: „Dynamicland existierte also im Zustand des noch-nicht, es war sein eigener Vorschein, ein Versprechen“.

Ein zentraler Ausgangspunkt dabei ist, dass die Forschungsgruppe im Dynamicland am Dynamicland arbeitet. Das bricht mit der sonst so typischen Hierarchie zwischen Entwickler:in und Nutzer:in. Im Dynamicland ist man Visionär:in, Ingeneur:in und Nutzer:in zugleich. 

Für den Anthropologen Bachmann teilt Dynamicland damit nicht nur eine völlig andere Vorstellung, was ein Computer sein sollte, sondern stellt auch eine Chance zu einem Kulturwandel dar: „Die Dynamic Media Group bietet mit ihrer visionären Arbeit einen alternativen Geschichtsverlauf an.“ Sie führt jene Revolution fort, die mit den ersten Computer-Prototypen begann und das Versprechen barg, dass ein neues digitales Medium auch zu einem neuen Menschsein und einer „humanen Zukunft“ führt.

Es ist noch unklar, wie lange dieser Weg dauert und wie er im Detail aussehen wird. Aber wie schon Alan Kay gesagt haben soll: „Die beste Art, die Zukunft vorherzusagen ist, sie zu erfinden“.


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