2019 verklagte der Australier Dylan Voller drei Medienunternehmen, die ein Video von ihm auf Facebook veröffentlicht hatten, wegen Verleumdung. Seiner Ansicht nach sind sie für ehrverletzende oder rufschädigende Äußerungen in den Kommentarspalten unter ihren Facebook-Posts verantwortlich. Der höchste australische Gerichtshof hat die Urteile der bisherigen Instanzen in Vollers Fall nun letztinstanzlich bestätigt.
Vollers Anwalt zufolge sei sein Mandant zufrieden mit dem Urteil. Aus Sicht seines Mandanten sei es dem Gericht mit seiner Entscheidung gelungen, die Verantwortung dorthin zu verlagern, wo sie hingehöre, nämlich zu den Betreibern der Facebook-Seiten und damit …
… zu den Medienunternehmen, die über enorme Ressourcen verfügen, um Kommentare zu überwachen, wenn sie annehmen können, dass eine Person, über die sie berichten, in diesen verleumdet werden wird.
Verhandelt wurde in Vollers Fall bereits seit Jahren. Die beklagten Medienunternehmen appellieren nach der finalen Entscheidung nun an die Politik. „Wir hoffen, dass bei der Überarbeitung der Musterverordnung über Verleumdung die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs und die daraus resultierenden Folgen für Verleger berücksichtigt werden“, kommentierte ein Sprecher von Nine Entertainment (zuvor: News Corp.) das Urteil.
Gemeint ist damit die Erweiterung einer Verordnung, die Medienunternehmen eine bessere Verteidigung vor Gericht ermöglichen soll. Das Gesetzgebungsverfahren hierzu läuft, einzelne australische Bundesstaaten haben bereits Änderungen beschlossen. Die Verordnung könnte nun hinsichtlich der Frage überarbeitet werden, wer für Kommentare Dritter, die auf öffentlichen Social-Media-Seiten gepostet werden, verantwortlich ist.
Die Vorgeschichte
Der Kläger, Dylan Voller, war bereits in der Vergangenheit für eine Gesetzesänderung verantwortlich. Voller ist erst elf Jahre alt, als er das erste Mal ins Gefängnis muss. Er ist 19, als seine Geschichte landesweit bekannt wird. In den Jahren dazwischen sitzt er immer wieder in verschiedenen Jugendstrafanstalten im australischen Nordterritorium. Während seiner Haftzeiten misshandeln Aufseher den Minderjährigen immer wieder.
Schließlich wird der australische Sender ABC auf seine Geschichte aufmerksam. Die Redaktion gelangt an Aufnahmen aus einem Zeitraum von fünf Jahren. Beginnend 2010 zeigen diese, wie Voller misshandelt wird. Das Videomaterial wird 2016 in der Sendung „Four Corners“ ausgestrahlt. Besonders bekannt wird ein Bild, das den damals 17-Jährigen fixiert und mit einem „Spuckschutz“ über dem Kopf zeigt. Diese Behandlung ähnelt dem „Hooding„, das den Vereinten Nationen zufolge als Folter gilt.
Voller wird zum Aktivisten für eine Reform des Jugendstrafvollzugs in Australien. Der Premierminister kündigt als Reaktion auf die Ausstrahlung an, die Behandlung Jugendlicher in Haftanstalten landesweit untersuchen zu lassen. Verschiedene Nachrichtensender beginnen, ausführlich über das Thema zu berichten. Der Fall weckt großes öffentliches Interesse, die Diskussion über die Vorfälle entwickelt sich dabei zunehmend zu einer Kontroverse.
Die Klage
Über Dylan Voller berichten unter anderem News Corp., Fairfax Media und der Australian News Channel (ANC). Die Medienunternehmen veröffentlichen im Zuge der Berichterstattung auch Material und Artikel auf ihren Facebook-Seiten. Darunter sind Videos, die Voller während seiner Haft zeigen. Schnell füllen sich die Kommentarspalten unter den Posts.
Einige Nutzer:innen bringen ihr Mitleid zum Ausdruck und befürworten eine Reform des Jugendstrafrechts. Andere beginnen, die Verfehlungen des Jugendlichen aufzulisten. Voller wird von diesen Kommentator:innen unter anderem als Gewalt- und Wiederholungstäter bezeichnet. Möglicherweise wollen die Verfasser:innen die Misshandlungen damit indirekt rechtfertigen.
Voller verklagt News Corp., Fairfax Media und ANC daraufhin – allerdings nicht für deren Berichterstattung, sondern für die fehlende Moderation der Kommentare auf ihren Facebook-Seiten. Seine Begründung: Die Medienunternehmen seien als Betreiber der Seiten, auf der die Kommentare veröffentlicht wurden, haftbar für deren rufschädigende Wirkung.
Aus Vollers Argumentation ergibt sich die Forderung, Medienunternehmen oder Nachrichtenagenturen dafür verantwortlich zu machen, diffamierende oder unangemessene Kommentare auf ihren Social-Media-Konten zu überwachen und zu zensieren.
Der Prozess
Voller gewann 2019 in erster Instanz, alle bisherigen Berufungen wurden ebenfalls abgelehnt. Im Prozess sagte Ryan Shelley, Geschäftsführer der Marketing-Agentur Pepperit, als Sachverständiger für Soziale Medien aus. Das Urteil des Gerichts stützte sich in großen Teilen auf Shelleys Aussagen. Der Sachverständige befand unter anderem, dass „die Möglichkeit bestanden hätte, eine solidere und gezieltere Überwachung der Kommentare [seitens der Medienunternehmen] zu gewährleisten“.
Das Gericht nahm neben Shelley auch jeweils eine:n Vertreter:in der beklagten Medienunternehmen ins Kreuzverhör. Dabei wurde deutlich, dass die Medienanstalten vor allem aus „ökonomischen“ Gründen darüber entschieden hatten, ob und wie intensiv Kommentare moderiert wurden. Nach eigener Aussage rechneten die Beklagten allerdings damit, dass ein Fall wie Vollers kontroverse Beiträge nach sich ziehen würde.
Der Richter stellte Brighette Ryan, Vertreterin von Nationwide News, die Frage, warum die Kommentare auf den Facebook-Seiten nicht generell ausgeblendet werden, bis ein:e Moderator:in sie freigibt. Ryan antwortete darauf:
Weil das bedeuten würde, dass sich jemand den ganzen Tag hinsetzen und Kommentare freischalten müsste. […] Ich glaube, die Leute wären frustriert, wenn ihre Kommentare nicht auf der Seite erscheinen würden. Meiner Meinung nach würde das keinen Sinn ergeben.
Die Medienunternehmen beriefen sich zur Verteidigung auf das Prinzip der sogenannten „nicht-schuldhaften Verbreitung„. Mit diesem Ausdruck ist im angelsächsischen Recht die Verbreitung von diffamierendem Material ohne Kenntnis des verleumderischen Inhalts gemeint. Dabei darf dieses „Unwissen“ allerdings nicht fahrlässig – etwa aus reinem Desinteresse – zustande gekommen sein.
Die Begründung
Der Vorsitzende Richter in Vollers Fall akzeptierte diese Verteidigung nicht. Seiner Ansicht nach waren die Medienunternehmen in jedem der drei Verfahren als „Herausgeber“ verantwortlich für die Erstveröffentlichung der Kommentare. Dabei stützte sich der Richter auf eine detailliert in seiner Begründung erläuterte Unterscheidung verschiedener „Seitenmodelle Facebooks“: der öffentlichen und der privaten Facebook-Seite.
Bei den Konten der Nachrichtenunternehmen handle es sich um öffentlich zugängliche Seiten mit dem Ziel, Traffic auf die eigene Website zu lenken. Der Austausch mit Nutzer:innen werde genutzt, um dieses zu erreichen. Demnach werde die Seite hauptsächlich aus kommerziellen Gründen betrieben. Die Eigentümer:innen könnten sich folglich nicht darauf berufen, sie hätten die Meinungsfreiheit der Kommentator:innen nicht durch Blockieren oder Löschen von Beiträgen einschränken wollen.
Der Vorsitzende Richter befand zudem, dass Voller nicht dadurch verleumdet wurde, dass jemand überhaupt einen diffamierenden Kommentar verfasst habe. Ursächlich für den ihm entstandenen Schaden sei erst die Veröffentlichung verleumderischer Statements auf einer öffentlich zugänglichen Seite:
Wenn ein Beklagter gewerbsmäßig ein elektronisches Schwarzes Brett betreibt und Material einstellt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verleumderischen Kommentaren führt, „fördert“ der gewerbliche Betreiber verleumderisches Material und billigt dessen Vorhandensein und Veröffentlichung.
Entscheidend sei außerdem, ob besagte Herausgeber:innen die Möglichkeit hatten, die Antworten unter den Beiträgen zu kontrollieren. Bei den Posts über Voller sei dies der Fall gewesen. Shelley legte dazu in seinem Gutachten verschiedene Varianten dar, Kommentare zu überwachen.
Die Entscheidung
Die Medienunternehmen hätten sich dagegen entschieden, die Kommentare zu moderieren. Möglich gewesen wäre es den Seitenbetreibern etwa, die Kommentarfunktion von vornherein auszuschalten oder die Beiträge engmaschig händisch zu prüfen. Facebook biete zudem an, Posts automatisch mit einer „Sperrliste“ abzugleichen und gegebenenfalls zu verbergen, bis ein Admin sie sich anschaut und freigibt.
Die Begründung, „die Zeit habe eine Überwachung nicht zugelassen“, könne nicht geltend gemacht werden. Zusammengefasst war nach Ansicht des Richters das „endgültige Zustimmungsrecht“ den Beklagten vorbehalten. Somit seien diese für Kommentare Dritter unter ihren Beiträgen die verantwortlichen „Erstherausgeber“ – und als diese haftbar für die Verleumdung Vollers.
Nach dem Urteil befragte eine der beklagten Zeitungen Richard Allan, Facebooks Politdirektor für Europa, zu dem Fall. Dieser sagte im Namen Facebooks:
Generell sind wir der Meinung, dass Einzelpersonen für die Inhalte, die sie veröffentlichen, verantwortlich sein sollten. Sofern eine Person also verleumderische Inhalte veröffentlicht, sollte die Person selbst auch für diese haftbar gemacht werden.
In Deutschland
Auch hierzulande waren Nutzer:innen lange Zeit selbst dafür verantwortlich, gegen Verleumdung oder üble Nachrede vorzugehen. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat sich diese Verantwortung in Richtung Betreiber verschoben. Zumindest sollten sich Posts nun leichter melden und löschen lassen. Seit das NetzDG eingeführt wurde, will es allerdings hinten und vorne nicht passen. Plattformen, unter anderem Facebook, tricksen beim Meldeweg, Betroffenen fehlt die Information über ihre Rechte und eine europäische Lösung lässt auf sich warten.
In einem Transparenzbericht aus dem Juli 2020 schlüsselt Facebook die gemeldeten Verstöße unter anderem nach Straftatbeständen auf. Auf die Paragraphen § 185 bis § 187, also „Beleidigung“, „üble Nachrede“ und „Verleumdung“, sowie auf § 201a, die „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“, entfallen dabei insgesamt 6.422 Fälle. Den überwiegenden Teil davon meldeten Einzelpersonen.
Verleumderische und diffamierende Beiträge oder Kommentare sind hierzulande ebenfalls ein Problem – nicht nur für Privatpersonen. Auch deutsche Medienunternehmen nutzen, ebenso wie ihre australischen Pendants, kontroverse Fälle, um Klicks zu generieren. Und genau wie in Vollers Fall bleibt eine Moderation der Kommentarspalten dabei zu oft aus.
Zuletzt wurde dies im Fall Kasia Lenharts deutlich. Die Ex-Freundin des Fußballers Jerome Boateng beging am 9. Februar Selbstmord. Nach der Trennung des Paares hatten sich Boulevardmedien auf den Fall gestürzt – und Lenhart in den Kommentarspalten unter ihren Beiträgen regelrecht zum Abschuss freigegeben. Der Presserat rügte unter anderem die „Bild“-Zeitung für deren Berichterstattung. Ein Urteil wie das australische könnte Betroffenen künftig auch rechtlich eine Handhabe bieten, sich gegen diffamierende Aussagen zu wehren.
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