Dass die ungarische Regierung offenbar systematisch Journalist:innen und Oppositionelle mit dem Staatstrojaner Pegasus ausspioniert hat, sorgt in Brüssel für Empörung. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte bei einer Pressekonferenz in Prag, wenn sich die Berichte bestätigten, sei eine solche Überwachung „komplett inakzeptabel und geht gegen jegliche Regeln, die wir in der Europäischen Union bezüglich der Pressefreiheit haben“. Ob die Kommission deshalb aber Schritte gegen die ungarische Regierung einleitet, konnte ein Kommissionssprecher in Brüssel zunächst nicht sagen.
Am Sonntagabend hatten internationale Medien über eine geleakte Liste mit rund 50.000 Telefonnummern berichtet, die mit Hilfe des Staatstrojaners Pegasus der israelischen Firma NSO Group gehackt und ausspioniert worden sein könnten. Zugespielt wurde die Liste Amnesty International und der Pariser NGO Forbidden Stories, die sie mit 16 Medienorganisationen weltweit teilte. Bei den Zielpersonen im Visier von Pegasus handelt es sich vielfach um Journalist:innen, NGO-Leute und Oppositionelle aus Staaten wie Aserbaidschan, Mexiko, Ruanda, Saudi-Arabien und Indien. Die einzige EU-Regierung, die nach den Recherchen Überwachungsziele auf der Liste beigesteuert hat, ist Ungarn.
Laut der Recherche finden sich auf der Überwachungsliste aus Ungarn zumindest zehn Anwält:innen, eine Figur aus der Opposition und fünf Journalist:innen, wie der britische Guardian aufzählt. Dazu gehöre auch der bekannte Journalist Szabolcs Panyi von Direkt36, eines der letzten unabhängigen Medien in Ungarn. Nach den Recherchen genehmigte das ungarische Justizministerium in diesem Jahr im Schnitt täglich fünf solcher Überwachungsmaßnahmen für Zwecke der „nationalen Sicherheit“.
Warnung vor „schöner neuer Welt der Autokraten“
Die Recherchen zeigten, wie gefährdet Privatsphäre und Pressefreiheit auch in Europa seien, sagte der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner gegenüber netzpolitik.org. Europäische Grundwerte seien in Ungarn unter die Räder gekommen. „Der Fall zeigt außerdem, dass bei weiteren Sicherheitsinstrumenten auf europäischer Ebene wie zum Beispiel E-Evidence mit Blick auf Ungarn große Vorsicht geboten ist.“ Die E-Evidence-Verordnung soll Behörden in der ganzen EU vereinfacht grenzüberschreitenden Datenzugriff in Ermittlungsverfahren geben. Inwiefern es dabei Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch durch Behörden etwa in Ungarn und Polen gibt, ist Gegenstand der laufenden Verhandlungen.
Empört zeigte sich auch der Ko-Fraktionschef der Linken, Martin Schirdewan. Er sprach auf Twitter in Anspielung an den dystopischen Roman von Aldous Huxley von einer „schönen neuen Welt der Autokraten“.
Auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung betonte die ungarische Regierung, „staatliche Stellen, die befugt sind, verdeckte Methoden einzusetzen“ würden „regelmäßig von staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen kontrolliert“. Stimmen aus der ungarischen Zivilgesellschaft betonen allerdings, es gebe keine effektive, unabhängige Kontrolle der Geheimdienste, schreibt die SZ. Im ungarischen Parlament hat die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán eine Zweidrittelmehrheit, in der Pandemie entmachtete Orbán zeitweise das Parlament und regierte per Dekret.
Attacken der ungarischen Regierung gegen unabhängige Medien und die Justiz sorgen immer wieder für Kritik der EU-Kommission, Abgeordneten und Mitgliedsstaaten. Seit Jahren läuft ein Rechtstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn und Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrages, gegen Sanktionen durch die anderen EU-Länder haben sich die beiden Staaten aber gegenseitig geschützt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat zuletzt angedroht, EU-Mittel für Ungarn zurückzuhalten, wenn das Land nichts gegen seine Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit unternehme. Angesprochen auf die Pegasus-Enthüllungen sagte der Kommissionssprecher, die EU-Kommission werde die Sache weiter verfolgen.
Grüne Kritik an „halbherziger“ Reaktion von der Leyens
Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold zeigte sich auf Anfrage von netzpolitik.org genervt von der „sehr halbherzigen“ Reaktion von der Leyens. Die Überwachung von Nachrichtenmedien biete eine „idealtypische Rechtsbasis für ein Vertragsverletzungsverfahren“ gegen Ungarn. Die Forderung der Grünen sei, ein solches Verfahren sofort zu prüfen.
Die EU-Kommission sei aber bereits bislang zu feige gewesen, um Urteile des Europäischen Gerichtshofs in Sanktionen zu übersetzen, kritisiert Giegold. Er verweist auf Urteile des EU-Gerichts gegen das umstrittene ungarische NGO-Gesetz, das Hochschulgesetz, mit dem die Central European University aus Budapest vertrieben wurde, sowie eine Entscheidung gegen illegale Pushbacks von Schutzsuchenden an der Grenze. Wenn die EU-Kommission solche Fälle nochmal vor den EuGH bringe, könnte dieser hohe Sanktionen etwa in Form von täglichen Geldstrafen gegen Ungarn verhängen, bis die Gesetze zurückgenommen seien. „Das ist die Sprache, die Orbán versteht“, sagte Gigold.
Kritik übte der Abgeordnete auch an der deutschen Bundesregierung. Diese verwende Ressourcen auf Staatstrojaner, statt durch das Schließen von Sicherheitslücken für IT-Sicherheit zu sorgen.
SPD-Abgeordneter: „Staatstrojaner verbieten“
Der SPD- Europaabgeordnete Tiemo Wölken bezeichnete „staatlich geduldete Sicherheitslücken in Software“ für Journalist:innen und Aktivist:innen als lebensgefährlich: „Die Konsequenz aus den Pegasus-Enthüllungen muss sein, dass Sicherheitslücken sofort gemeldet und Maßnahmen wie Staatstrojaner verboten werden.“
Erst vor einigen Wochen hatte der Bundestags mit Stimmen von Union und SPD allen 19 Geheimdiensten erlaubt, Geräte wie Smartphones oder Computer mit Staatstrojanern zu hacken. Angesichts der Enthüllungen zu Pegasus hat netzpolitik.org beim Bundeskriminalamt nach Unterlagen zu einem möglichen Einsatz des umstrittenen Staatstrojaners in Deutschland angefragt.
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