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Verstoß gegen EU-Recht: Belgisches Verfassungsgericht kippt Vorratsdatenspeicherung

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Wer kommuniziert wann, wo, mit wem über welche IP-Adresse oder Telefonnummer? Solche Metadaten der elektronischen Kommunikation mussten Telekommunikationsanbieter in Belgien bisher ein Jahr lang speichern. So sah es das nationale Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) vom 29. Mai 2016 vor. Die entscheidenden Artikel dieses Gesetzes hat das Verfassungsgericht nun für nichtig erklärt und damit der allgemeinen Vorratsdatenspeicherung in Belgien den Riegel vorgeschoben. Die massenhafte und anlasslose Speicherung der Daten sei nicht vereinbar mit den europäischen Grundrechten.

„Muss die Ausnahme sein, nicht die Regel“

„Die Verpflichtung zur Speicherung elektronischer Kommunikationsdaten muss die Ausnahme sein, nicht die Regel“, argumentierte das belgische Gericht. Bislang war diese Verpflichtung in Belgien jedoch die Regel. Telekommunikationsanbieter und -Betreiber mussten Identifikations-, Zugangs- und Verbindungsdaten sowie Kommunikationsdaten 12 Monate lang speichern. Das Gesetz schrieb vor, dass sie diese dann für Ermittlungen zur Verfügung zu stellen mussten, wenn Sicherheitsbehörden danach verlangten. Dagegen hatten die deutsch- und französischsprachigen Anwaltskammern Belgiens, die Menschenrechtsorganisationen „Académie Fiscale“, „Liga voor Mensenrechten“ und „Ligue des Droits de l’Homme“ sowie mehrere Einzelpersonen geklagt.

Die belgischen Richter:innen begründen ihre aktuelle Entscheidung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). 2018 hatten sie sich bereits mit Vorabentscheidungsfragen an den EuGH gewandt. Darin ging es insbesondere um die Konkretisierung der Ausnahmen, in denen Vorratsdatenspeicherung zulässig ist. Im Oktober 2020 kam dann das Urteil des EuGH mit den Antworten.

Ausmaß der Vorratsdatenspeicherung geht zu weit

Mit diesen hat das belgische Verfassungsgericht sich jetzt befasst und kommt zu dem Schluss, dass die Vorratsdatenspeicherung in Belgien zu umfassend ist. Sie überschreitet die durch den EuGH vorgesehenen Ausnahmen und verstößt damit gegen die Bestimmungen der EU-Grundrechtecharta. Vorratsdatenspeicherung ist nur erlaubt, wenn sie „zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität, und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“ eingesetzt wird, so das belgische Urteil. Außerdem dürfen die IP-Adressen und Bestandsdaten selbst dann nur für einen „absolut notwendigen Zeitraum“ gespeichert werden.

Und wie geht es jetzt weiter?

Das Gericht fordert die belgische Regierung auf, neue, konkretere gesetzliche Regelungen aufzustellen. Sie sollen klar formulieren, zu welchem Zweck und in welchem Umfang Telekommunikationsanbieter die Daten speichern müssen. Außerdem sollen sie Mindestanforderungen an die Daten festlegen, sodass nicht mehr als absolut notwendig gespeichert wird. Objektive Kriterien sollen transparent machen, weshalb die zu speichernden Daten „mit dem verfolgten Ziel“ zusammenhängen.

Die belgische Regierung hatte das Gericht um einen Übergangszeitraum gebeten, um bis zur neuen Regelung weiter speichern zu dürfen wie bisher. Dies lehnte das Verfassungsgericht ab. Das Verbot der allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsdatenspeicherung gilt in Belgien somit ab sofort. Wenn in einem Strafprozess noch ein Beweis aus der nicht mehr zulässigen Vorratsdatenspeicherung vorgelegt wird, liege die Entscheidung bei den jeweiligen Strafrichter:innen, ob sie den Beweis zulassen oder nicht.

Europäisches Recht und nationale Interpretationen

In seinem Urteil ist das belgische Verfassungsgericht deutlicher geworden als das oberste Gericht Frankreichs. Erst am vergangenen Mittwoch machten die französischen Richter:innen die Ausnahme aus dem EuGH-Urteil zur Regel und gaben der umfassenden Vorratsdatenspeicherung in Frankreich vorerst weiter grünes Licht – mit der Begründung, dass sich Frankreich aufgrund seiner aktuellen Gefährdungslage im Ausnahmezustand befinde.

Was als Ausnahme zu werten ist und was nicht, bietet offenbar noch immer Spielraum für verschiedene Interpretationen. Auch in Deutschland ist die Vorratsdatenspeicherung seit Jahren ein Streitthema. 2007 wurde die Vorratsdatenspeicherung das erste Mal beschlossen, drei Jahre später aber wieder gekippt. 2015 startete die große Koalition aus Union und SPD mit dem Gesetz zur „zeitlich befristeten Speicherung von Verkehrsdaten zur Strafverfolgungsvorsorge und zur Gefahrenabwehr“ einen zweiten Anlauf. Auch der hielt nicht lange stand: Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalens gab zwei Jahre später einer Klage gegen das Gesetz Recht, auch hier begründet durch einen Widerspruch zum EU-Recht.

Vom Tisch ist die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland damit aber noch nicht. Die Bundesnetzagentur setzte die Umsetzungspflicht des Gesetzes zwar aus, doch das Bundesverwaltungsgericht gab die Frage der Rechtmäßigkeit der deutschen Vorratsdatenspeicherung im September 2019 an den EuGH weiter. Das Urteil steht noch aus.

Entscheidungen in anderen Mitgliedsstaaten – so wie nun in Belgien – unterstreichen immer wieder, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung gegen die Grundrechte verstößt. Dennoch hindert das die große Koalition nicht daran, die Vorratsdatenspeicherung weiter in neue Gesetze aufzunehmen. Zuletzt beschloss sie in der vergangenen Woche ihr neues Telekommunikationsgesetz – Verpflichtungen zur Vorratsdatenspeicherung inklusive.


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