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Breakpoint: Die drei fragwürdigsten Debattenbeiträge zur Chatkontrolle 2023

2023 war das Jahr, in dem die Debatte um die Chatkontrolle heftiger wurde. Es blieb nicht immer sachlich, findet unsere Kolumnistin. Sie hat ihre Top 3 der fragwürdigsten Äußerungen und Beiträge zur Chatkontrolle des Jahres gekürt.

Eine goldene Tropäe auf rotem Hintergrund
Eine Auszeichnung, die keine Freude macht. – RDNE Stock project

Nur Massenüberwachung verhindert sexualisierte Gewalt und Bürgerrechtler:innen gehören der „Kinderschänder-Lobby“ an! 2023 war viel los in der Debatte um die Chatkontrolle. Da den Überblick zu behalten, fiel oft schwer. Doch haarsträubende Debattenbeiträge gaben immer wieder die Chance innezuhalten. In meiner letzten Kolumne dieses Jahres versuche ich, die komplizierte Debatte um die Chatkontrolle 2023 zusammenzufassen – und die unsachlichsten Debattenbeiträge gebührend zu würdigen.

Die Chatkontrolle ist Teil des Verordnungsvorschlags zur „Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“. Die EU-Kommission will darin Anbieter von Chatdiensten auf Anordnung verpflichten, private Chats zu durchleuchten. Auch, wenn diese verschlüsselt sind. Und auch, wenn die Urheber der Chats nie im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt aufgefallen waren.

Das hehre Ziel der EU-Kommission: So sexualisierte Gewalt an Kindern, die im und durch das Internet stattfindet, aufzudecken und zu bekämpfen. Doch der Vorschlag hängt derzeit im Rat, die Mitgliedstaaten der EU können sich nicht auf eine gemeinsame Position zum Gesetzentwurf einigen.

Kritiker sehen bei der Chatkontrolle die Gefahr, eine Grundlage für anlasslose Massenüberwachung zu schaffen und somit Grundrechte wie das auf Privatsphäre aller EU-Bürger:innen massiv zu gefährden.

Im März kritisierte etwa der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber die Chatkontrolle als „etwas, was unbedingt unterbleiben muss“. Im April erklärte der Bundesminister für Digitales Volker Wissing, im Rat der EU ein Veto gegen die Chatkontrolle einlegen zu wollen.

Im Mai zeigte sich, wie stark die Privatheit von digitaler Kommunikation eingeschränkt werden könnte: Spanien sprach sich für ein Verbot der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung digitaler Kommunikation aus: „Es wäre wünschenswert, wenn Diensteanbietern aus der EU auf dem Gesetzesweg untersagt würde, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung anzubieten“. Mehrere andere Staaten lehnten das ab.

Im September musste schließlich der Rat die Abstimmung über den Entwurf zur Chatkontrolle vertagen. Grund dafür war auch der Widerstand aus Deutschland. Im November erzielte das Europaparlament eine Einigung über Lösungsvorschläge: Nur die Kommunikation von Einzelpersonen und bestimmten Gruppen, die im Zusammenhang mit Missbrauchsmaterial stehen, soll durchleuchtet werden. Und: Ende-zu-Ende-Verschlüsslung soll weiterhin gewährleistet werden. Doch solange sich der Rat nicht einig ist, kann der finale Trilog zwischen den drei EU-Institutionen nicht starten.

Daher möchte wohl die EU-Kommission die freiwillige Chatkontrolle verlängern, damit Anbieter Kommunikation auf der Suche nach Missbrauchsinhalten durchsuchen können. Vor einigen Tagen veröffentlichte die Kommission einen Bericht, in dem sie ebenjenes Durchleuchten privater Nachrichten für verhältnismäßig erklärt. Und das, obwohl sie im gleichen Dokument zugeben muss: „Die verfügbaren Daten reichen nicht aus, um diesbezüglich endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen.“

Im Frühsommer 2022 durfte ich meinen ersten Text auf netzpolitik.org veröffentlichen: ein Kommentar gegen die Chatkontrolle. Ich schrieb darüber, wie sehr mich als damals 16 Jährige der Gedanke beunruhigt, jemand würde meine private Kommunikation überwachen und intimste Gespräche mitlesen. Obwohl ich einer Gruppe angehörte, die durch die angestrebte EU-Verordnung geschützt werden sollte.

Obwohl bereits die Zusammenfassung der Vorgänge in Sachen Chatkontrolle mehrere hundert Zeichen umfasst, hat sich anderthalb Jahre später wenig geändert: Noch immer muss ich mir Sorgen darüber machen, ob die EU meine Grundrechte achtet – oder ob bald auch meine Ende-zu-Ende-verschlüsselten Chats angegangen werden.

Und die Chatkontrolle? Noch immer wird sie in der EU diskutiert, noch immer stellt sie eine der Dystopien schlechthin für Bürgerrechtler:innen dar und noch immer wird sie von Hardlinern mit teils fragwürdigen Argumenten verteidigt. Von letzteren gab es in diesem Jahr etliche – doch drei haben sich besonders hervorgetan.

Hier sind meine Top Drei der fragwürdigsten Beiträge pro Chatkontrolle 2023.

Platz 1: Werbevideo der EU-Kommission

Kurzvideo, verbreitet auf dem Twitterkanal des EU-Innenkomissariats, ab dem 15. September

Im Herbst diesen Jahres warb die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf ihrem Twitterkanal mit einem Video für die Chatkontrolle. Der Clip wurde in EU-Ländern ausgespielt, die sich kritisch zur Chatkontrolle verhielten.

Das Video zeigte grau-verwaschene Bilder kleiner Mädchen am Handy, abwechselnd mit Aufnahmen von Männern, die ebenfalls an ihren Handys tippten. Unterlegt waren die Bilder mit unheimlicher Musik. Suggeriert werden sollten wohl mögliche Szenen digitalen Kindesmissbrauchs.

Wem das Video in die Timeline gespült wurde, stand dabei im Vorhinein fest: Der niederländische Jurist Danny Mekić hatte aufgedeckt, dass Johansson sich dem Mittel des Microtargeting bediente. Das heißt, dass die Werbung bei Personen landet, die einem bestimmten Profil entsprechen – etwa bei Alter, Nationalität oder Interessen. Genau das will die EU eigentlich strenger regulieren. Mit dieser Doppelmoral katapultieren sich Ylva Johansson und ihr Werbevideo auf Platz eins der fragwürdigsten Beiträge rund um die Chatkontrolle.

Doch damit nicht genug: Auch die Inhalte des Videoclips sind zweifelhaft. So bedienten sich die Macher:innen einer suggestiven Umfrage der EU-Kommission. Bei dieser wurden Teilnehmende generell gefragt, ob sie es befürworten, wenn Missbrauchsbilder online gesucht werden.

Platz 2: „Kinder haben halt keine Lobby, Kinderschänder in Gestalt von Netzaktivisten, Digitalpolitikern, Bürgerrechtlern und Datenschützern schon“

Daniel Deckers, FAZ, in seinem Kommentar „Kinder ohne Lobby“ am 5. Dezember

So lautet der letzte Satz des Redakteurs in der FAZ in seinem Kommentar „Kinder ohne Lobby“. Die Aussage ist provokant, sie ist plump – und ehrlich gesagt, ist es mir zu albern, genauer darauf einzugehen.

Viel interessanter ist eine rhetorische Frage, die Decker früher in seinem Text stellt: „Was kümmern Kinderrechte sogenannte Liberale wie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), wenn es darum geht, die Privatsphäre und den Datenschutz als die wahren Bürgerrechte gegen eine ‚anlasslose Massenüberwachung‘ zu verteidigen?“.

Deckers vergisst dabei eines: Auch Kinder und Jugendliche haben Grundrechte – und dazu zählt nicht nur der Schutz vor Gewalt.

Kinder haben unter anderem auch ein Recht auf Privatsphäre und Ehre, im 16. Artikel der Kinderrechtskonvention: „Kein Kind darf willkürlichen oder rechts­widrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beein­trächtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden“, steht dort. „Das Kind hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beein­trächtigungen“, heißt es wörtlich.

Auch die Kommunikation von Kindern und Jugendlichen wäre beim Vorschlag der EU-Kommission von Durchsuchungen betroffen – und somit nicht mehr privat. Auch das Recht auf privaten Schriftverkehr von Kindern würde somit beschnitten. Das bedeutet: Bürgerrechtler:innen, die gegen die von der EU geplante massenweise Chatkontrolle aktiv werden, verteidigen mit ihrer Arbeit auch die Rechte von Kindern.

Platz 3: „Wenn es Bomben auf der Straße gegeben hätte, wäre jedem klar geworden, dass wir ein Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Privatsphäre finden müssen. Aber dieses fünfjährige Mädchen, das jede Woche von seinem Großvater missbraucht wird: Das ist ein stilles Verbrechen, das sie vielleicht nie ausspricht. Wir haben die Verantwortung, auch sie zu schützen.“

Ylva Johansson, EU-Innenkommissarin, auf dem Weg zur EU-Verhandlung über die Chatkontrolle am 15. Mai

Johanssons Beispiel macht betroffen. Doch gerade in einem solchen Szenario würde die sexualisierte Gewalt wohl nicht durch das Durchleuchten von digitaler Kommunikation aufgedeckt werden. Die meisten geschehen im sozialen Nahfeld, das geht auch ganz ohne verdächtige Kommunikation.

Die EU-Kommissarin instrumentalisiert hier die furchtbare Realität innerfamiliärer Gewalt für ihre politische Agenda. Das ist nicht nur moralisch verwerflich. Johansson beschreibt einen Misstand, der durch die von ihr befürwortete Maßnahme nicht gelöst würde: Das ist ein unfaires Mittel beim Versuch, eine Regelung zu finden, die gleichzeitig den Schutz vor Gewalt und den Schutz der Persönlichkeitsrechte der EU-Bürger:innen gewährleistet.

Dabei ist ein sachlicher Diskurs unerlässlich, um eine Lösung zu finden, die ebendiesen Spagat schafft. Dass das möglich und dringend notwendig ist, zeigt eine Studie des „Child Rights International Networks“ aus dem Februar dieses Jahres. Die Urheber sehen die Gefahr, dass Expert:innen und Entscheidungträger:innen in der aufgeheizten Debatte nicht mehr miteinander sprechen. Und plädieren dafür, gemeinsam vielschichtige Lösungen zu finden, statt weiter zu polarisieren.

„Privatsphäre ermöglicht es Kindern, ihre Persönlichkeit sicher zu entwickeln und herauszufinden, wer sie sind“, stellt der Bericht fest. „Wir müssen das Framing von Privatsphäre versus Kinderschutz hinter uns lassen, um die Rechte aller Kinder zu schützen.“

Um eine tragfähige Regelung zu finden, braucht es keine polemischen Beiträge, die Massenüberwachung zum Allheilmittel gegen Kindesmissbrauch erheben. Und auch nicht solche, die Datenschützer:innen als Verbündete von Straftäter:innen verunglimpfen. Es braucht ein sachliches Ringen um das bessere Argument und die beste Lösung – die, die Freiheitsrechte achtet. In dieser Pflicht stehen alle, die nicht nur eines der vielen Kinderrechte schützen wollen.


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