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Chatkontrolle: So führt EU-Kommissarin Ylva Johansson die Öffentlichkeit in die Irre

Im Interview mit dem SPIEGEL verteidigt EU-Kommissarin Johansson die von der EU geplante Chatkontrolle. Dabei sagt sie drei Mal die Unwahrheit und verbreitet mindestens sieben Mal irreführende Aussagen. Ein Faktencheck.

Ylva Johansson und der Schriftzug "falsch"
Teils falsch, teils irreführend: EU-Kommissarin Johansson verteidigt die Chatkontrolle im SPIEGEL. – Johansson: IMAGO / TT; Montage: netzpolitik.org

In den vergangenen beiden Tagen war die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson in Berlin. Anlass ihrer Reise: die umstrittenen EU-Pläne zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Auf ihrer Agenda standen dabei Treffen mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).

Derzeit diskutiert der Ministerrat der EU über das Vorhaben, besonders umkämpft sind dabei die Pläne zur sogenannten Chatkontrolle. Nach dem Willen der EU-Kommission sollen künftig Anbieter von Diensten im Internet auf Anordnung die Inhalte von Nutzer:innen durchleuchten müssen – um sie etwa auf Darstellungen sexualisierter Gewalt oder Grooming zu scannen.

Nach einer Phase mit widersprüchlichen Aussagen positioniert sich Deutschland mittlerweile klarer gegen eine Schwächung oder Umgehung von Verschlüsselung. Wie die Gespräche der Kommissarin mit den Bundesminister:innen liefen, ist bislang nicht bekannt. Justizminister Buschmann twitterte danach: „Wir sind uns in der Bundesregierung einig: Chatkontrollen lehnen wir ab. Eine anlasslose Überwachung privater Kommunikation hat in einem Rechtsstaat nichts zu suchen“.

Außerdem schrieb Buschmann: „Deshalb lehnen wir generelle flächendeckende Überwachungsmaßnahmen privater Korrespondenz gerade auch im digitalen Raum ab.“ Ins Auge stechen dabei die überspezifischen Worte „anlasslos“, „generell“ und „flächendeckend“. Befürworter:innen der Chatkontrolle weisen immer wieder darauf hin, dass die Überwachung lediglich gezielt und auf Anordnung passieren würde. Offensichtlich lässt der Justizminister an dieser Stelle noch Spielraum offen.

Faktencheck des SPIEGEL-Interviews

Flankiert wurde Johanssons Berlin-Visite von einem Interview mit dem SPIEGEL (€). Darin verteidigte sie die Kommissionspläne mit Nachdruck. An mindestens zehn Stellen sind ihre Aussagen jedoch irreführend oder schlicht falsch. Wir haben uns die Aussagen der Kommissarin deshalb genau angeschaut:

1. „Ich habe nicht vor, die Überprüfung von digitaler Kommunikation auszuweiten“

Das ist falsch. Der Entwurf der EU-Kommission sieht vor, dass Online-Anbieter auf Anordnung sogar private Chats durchleuchten müssen. Verdachtsmeldungen sollen sie an ein EU-Zentrum weiterleiten. Dieses EU-Zentrum müsste erst noch geschaffen werden. In diesem Zentrum sollen dann amtliche Sichter:innen die verdächtigen Inhalte überprüfen und Falschmeldungen aussortieren. Es handelt sich um eine neue Infrastruktur und reihenweise neue Angestellte – also eindeutig eine Ausweitung.

Bisher durchleuchtet nur eine handvoll sehr großer Diensteanbieter Inhalte. Sie tun das freiwillig, wobei fraglich ist, ob sie das rechtlich überhaupt dürfen. Johansson selbst sagt dazu: „Heute tun viele Unternehmen, was sie für richtig halten, ohne dass dies mit unseren Datenschutzbestimmungen übereinstimmt.“ In Zukunft sollen jegliche Diensteanbieter zur Durleuchtung von Inhalten verpflichtet werden können. Diese Anbieter durchsuchen momentan auch nur unverschlüsselte Inhalte auf ihren Servern. In Zukunft sollen sie auch verschlüsselte Inhalte durchsuchen, und das möglicherweise auch auf Endgeräten wie Smartphones.

Die E-Privacy-Richtlinie verbietet das Durchleuchten privater Kommunikation, weil die Vertraulichkeit privater Kommunikation ein Grundrecht ist. Manche Anbieter wollen aber die Daten ihrer Nutzer:innen trotzdem nach Hinweisen auf sogenannten Missbrauch durchsuchen, also gibt es seit Juli 2021 eine temporäre Ausnahme dieser Regel. Darin geht es um „Online-Material über sexuellen Missbrauch von Kindern“. Mit ihrem neuen Entwurf will die Kommission aber auch die Suche nach unbekanntem Material und Grooming verpflichtend machen. Grooming nennt man es, wenn Erwachsene zu Kindern Kontakt anbahnen.

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2. „Letztes Jahr gab es weltweit 32 Millionen Meldungen der Unternehmen über sexuellen Kindesmissbrauch“

Das ist irreführend. Offenbar bezieht sich Johansson an dieser Stelle auf die Arbeit einer US-amerikanischen Organisation namens NCMEC („National Center for Missing and Exploited Children“). Das NCMEC sammelt von großen Online-Anbietern Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Die Zahl von rund 30 Millionen eignet sich aber nicht, um die Anzahl potenzieller Opfer auch nur annähernd abzuschätzen. Mehr als 90 Prozent der Meldungen kommen allein von Meta, also dem Konzern, zu dem Facebook, Instagram und WhatsApp gehören. Davon wiederum sind ein Großteil Duplikate, also Aufnahmen, die wieder und wieder geteilt werden. Hier haben wir ausführlich analysiert, was die Zahlen des NCMEC aussagen – und was nicht.

3. „Ohne meine neue Gesetzgebung wird es diese Meldungen nicht mehr geben“

Das ist irreführend. Die von der EU geplante Chatkontrolle ist nicht zwingend nötig, damit die erwähnten Verdachtsmeldugen weiter fließen. Weniger invasive Lösungen sind möglich. So arbeitet das NCMEC aktuell auch ohne Zugriff auf Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation. Die Sichter:innen werten nicht alle Verdachtsmeldungen selbst aus. Laut einem EU-Bericht sichten sie lediglich Fälle aus den USA. Meldungen aus anderen Ländern leiten sie weiter. Viele Fälle aus der EU landen bei der europäischen Polizeibehörde Europol. Von dort können die Meldungen dann zu den Mitgliedstaaten gehen; in Deutschland greifen die Landeskriminalämter die Meldungen auf.

4. „Sehen Sie, ich fordere die großen Unternehmen heraus. Die wollen nicht reguliert werden“

Das ist irreführend. Die geplante Verordnung beschränkt sich nicht auf „große Unternehmen“ wie Google, Apple oder Meta. Sie betrifft potentiell alle Internet-Dienste. Die Kritik an der Chatkontrolle lässt sich auch nicht auf eine Lobbykampagne aus der Industrie reduzieren. Es geht nicht nur um die Interessen großer Unternehmen sondern um Grundrechte. Kritik an den Vorschlägen äußern viele: Die Datenschutzbeauftragten der EU-Länder inklusive dem deutschen Bundesdatenschutzbeauftragten, der Bundesrat, mehrere Ministerien, der UN-MenschenrechtskommissarKinderschutz- und Journalist:innenverbände sowie Bürgerrechtler:innen.

5. „Sie sind die Einzigen, die den sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet stoppen können“

Das ist falsch. Online-Anbieter zum Durchleuchten von Kommunikation zu zwingen, ist keinesfalls das einzige Mittel gegen Gewalt an Kindern. Das Internationale Netzwerk für Kinderrechte hat in einem Bericht zahlreiche Lösungen skizziert, wie Kindern besser geholfen werden kann. Dazu gehören Meldemechanismen, mit denen sich Minderjährige wehren oder Hilfe anfordern können, wenn sie belästigt werden oder verstörende Inhalte sehen. Vor allem aber müssten verschiedene Akteur:innen zusammenarbeiten, wie die Kinderschützer:innen erklären. Dazu gehören etwa Ermittlungsbehörden, Sozialarbeiter:innen, Betroffenenhilfe, Schulen und ärztliche Praxen. Dafür fehlen aber oftmals Ressourcen.

Auch in Deutschland sind beispielsweise Jugendämter oft in Personalnot und fordern eine bessere Ausstattung. Das würde die Situation für Kinder ganz unmittelbar verbessern, unabhängig davon, ob sie von physischer oder digitaler Gewalt betroffen sind.

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6. „Es geht um viele Kinder, die wir retten können“

Das ist irreführend. Kinder retten kann das geplante Gesetz wohl nur in Ausnahmefällen. Von der automatisch generierten Verdachtsmeldung im Netz bis hin zum Kind in Not ist es ein extrem langer Weg. Warum das so ist, haben wir hier Schritt für Schritt erklärt. Statt einer Rettung für Kinder steckt hinter der Chatkontrolle vielmehr eine systematische Nacktbildersammlung, die beispielsweise auch einvernehmlich erstellte Aufnahmen zwischen Jugendlichen umfasst.

Anschaulich wird das Problem, wenn man zum Vergleich Zahlen des US-amerikansichen NCMEC heranzieht. Im Jahr 2021 hat die Organisation 85 Millionen Aufnahmen registriert. Doch bloß in 4.260 Fällen hat das NCMEC daraufhin Ermittlungsbehörden informiert, mit dem Verdacht, dass die Beamt:innen damit etwas anfangen können. Das entspricht 0,005 Prozent der registrierten Aufnahmen – beziehungsweise 0,05 Promille.

„Kinder und Jugendliche sind vor allem im eigenen Umfeld der Gefahr sexueller Gewalt ausgesetzt. Bei rund drei Viertel der Fälle geschieht das in der eigenen Familie oder im sozialen Nahfeld.“ Das sagt das zuständige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dort kann der Staat Kinder „retten“, dort kann Prävention sehr viel bewirken.

7. „Es gibt Erkennungstechnologie, die so eingesetzt werden kann, dass die Verschlüsselung erhalten bleibt“

Das ist irreführend. Das Interview-Team des SPIEGEL hat das allerdings auch direkt im Gespräch angemerkt. Hinter der Aussage steckt eine technische Spitzfindigkeit. Bei Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation können nur Sender:in und Empfänger:in eine Nachricht lesen. Wer die Daten auf dem Weg abfängt, sieht nur Zeichensalat. Bleibt also die Möglichkeit, Inhalte vor oder nach dem Ende-zu-Ende-verschlüsselten Versand zu überprüfen. Genau dafür gibt es Lösungen, die im Rahmen der Chatkontrolle diskutiert werden, zum Beispiel Client-Side-Scanning. In diesem Fall wird der sicher verschlüsselte Versand der Nachricht nicht angerührt, die Nachricht aber vor dem Versand gescannt. Für betroffene Nutzer:innen bringt das keinen Vorteil: Ihre Chats sind nicht mehr privat; die Vertraulichkeit von Kommunikation und die Integrität von IT-Systemen wird verletzt.

8. „Es ist vielmehr so, als würde man einen Polizeihund Pakete beschnuppern lassen, ob sich darin Kokain verbirgt“

Das ist irreführend. Zwar geht es sowohl bei Chatkontrolle als auch bei der Kontrolle durch Spürhunde um das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Da hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Digitale Kommunikation ist oft intensiv und intim. Sie passiert oft mehrfach täglich; Chats sind elementarer Bestandteil vieler enger Beziehungen. Der Zugriff auf digitale Kommunikation ist ungleich invasiver als der Zugriff auf Pakete. Hinzu kommt, dass sich digitale Kommunikation massenhaft durchsuchen lässt. So viele tierische Spürnasen könnte man gar nicht finden, selbst wenn man die Hunde aus allen Tierheimen der Welt rekrutiert.

Der Vergleich scheitert auch beim Client-Side-Scanning, also dem Durchleuchten der Inhalte vor dem Versand: Um im Bild zu bleiben, würde der Polizeihund dann nicht mehr an den Paketen auf dem Weg zu ihren Empfänger:innen schnüffeln. Der Hund wäre dann immer dabei, wenn wir in der Wohnung die Pakete einpacken.

9. Zur Frage nach den Gründen für den Widerstand in Deutschland: „Das müssten Sie mir erklären“

Das ist irreführend. Johansson tut hier so, als würde sie die Argumente nicht kennen. Dabei ist der Widerstand, der aus Deutschland kommt, gut begründet und greift zahlreiche Argumente auf, die selbst die EU-eigene Datenschutzaufsicht ausführlich in englischer Sprache dargelegt hat. Durch ihre zur Schau gestellte Unkenntnis diskreditiert Johansson die grundlegende Kritik von Politiker:innen und Zivilgesellschaft. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass sie sich damit nicht auseinandergesetzt hat. Immerhin hat sich Johansson diese Woche mit deutschen Spitzenpolitiker:innen getroffen, um über die Chatkontrolle zu sprechen – ohne Briefing dürfte keine EU-Kommissarin eine solche Reise antreten.

10. „Dann wird es ab 2024 keinen Schutz mehr vor sexuellem Kindesmissbrauch im Netz geben. Weil dann die dafür nötigen Instrumente in der EU verboten sein werden.“

Das ist falsch. Johansson bezieht sich an dieser Stelle wohl darauf, dass die aktuell geltende Verordnung zur „Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ im August 2024 ausläuft. Diese Leerstelle soll dann der neue Entwurf der Kommission füllen, der auch die Chatkontrolle umfasst. Doch selbst wenn dieser Entwurf scheitert oder sich verzögert, wird die EU in Sachen Kinderrechte nicht in ein Vakuum stürzen. Zum Beispiel regelt auch das neue Digitale-Dienste-Gesetz (DSA), wie Plattformen mit sogenanntem Missbrauch umgehen sollen. Demnach sollen sie unter anderem leicht zugängliche Meldemechanismen haben, Hinweise auf illegale Inhalte bearbeiten, Verdachtsmeldungen an Behörden weitergeben und missbräuchliche Nutzer:innen sperren. Für sehr große Plattformen gibt es verschärfte Regeln, demnach sollen sie etwa bewerten, welche Risiken ihre eigenen Dienste bergen und etwas dagegen unternehmen.


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