Der große Wurf bleibt aus: Die neue Digitalstrategie ist vor allem eine Auflistung schon laufender Vorhaben der Bundesregierung. Sie ist nur ein zaghafter Aufbruch, vergisst aber zu weiten Teilen, dass Netzpolitik vor allem Gesellschaftspolitik ist. Ein Kommentar.
Vor einem dreiviertel Jahr überraschten die Ampel-Parteien mit einem Koalitionsvertrag, der viele interessante Positionen enthielt und einen Aufbruch versprach. Nach 16 Jahren Unions-geführter Bundesregierungen samt ihrem in der Regel unterqualifizierten Digital-Personal, welches Netzpolitik vor allem als Wirtschaftsförderung und Foto-Inszenierungsmöglichkeit verstand und sich sonst vor allem für Überwachungsgesetze interessierte, hatten viele die Hoffnung, dass es jetzt besser wird. Die Hoffnung, dass es einfach besser werden muss.
Es startete eine Reise nach Jerusalem, denn erstmal wurden viele Abteilungen zwischen Ministerien ausgetauscht. Wir bekamen ein neu angemaltes Digitalministerium, denn eines von drei Digitalministerien war das Verkehrsministerium auch schon vorher. Und eine Digitalstrategie wurde versprochen, auch wenn das Vorhaben an sich nicht neu war.
Nach 2013 gab es mit der Digitalen Agenda einen ersten Versuch, der auch am beteiligten Spitzenpersonal scheiterte. In der letzten Legislaturperiode präsentierte man unterambitioniert dann nur noch eine „Umsetzungsstrategie“, die auflistete, was Ministerien unter dem Deckmantel „Digitales“ damals so machten und vorhatten.
Was alle bisherigen Strategien einte waren die Durchhalteparolen, dass wir überall Breitbandinternet („Der Markt wird es schon richten!“) und eine vollkommen digitale Verwaltung („Bald, Versprochen!“) bekommen sollen. Dass beides eigentlich kein Hexenwerk ist, zeigen uns zahlreiche andere Staaten in und außerhalb der EU, die diese Vorhaben auch tatsächlich erfolgreich umgesetzt haben.
Eher eine Meta-Strategie
Jetzt gibt es die Vorlage einer Digitalstrategie, die Mittwoch im Rahmen der Kabinettsklausur in Meseberg beschlossen werden soll. Diese muss man eher als „Meta-Strategie“ ansehen, sie versucht in einem Text vor allem das zu bündeln, was es an weiteren Strategie-Papieren für einzelne Bereiche schon gibt: Von der Gigabit-, über die Daten- bis zur KI-Strategie und weiteren Papieren wie der Cybersicherheitsagenda. Also doch wieder eine Art Umsetzungsstrategie.
In jedem Abschnitt stehen Ziele, an denen sich die Regierung messen lassen will. Das liest man durchgängig im Text. Trotzdem erinnern mich alle Ziele immer an das Versprechen von Angela Merkel, dass alle Haushalte 2018 doch 50 Mbit/s haben sollten oder an das Versprechen des früheren Kanzleramtschef Peter Altmaier, dass die Verwaltung bis 2021 komplett digital sei. Klare Ziele, gut überprüfbar. An allen gescheitert. Das war schon früher Science Fiction und ist es leider heute noch. Die üblichen Durchhalteparolen sind natürlich auch dabei. Immerhin kennen viele Bürger:innen eGovernment, allerdings aus dem „Weltspiegel“ im linearen Fernsehen, weil sie nicht mal Breitbandinternet zuhause auf dem Land haben.
Erfrischend: Top-10 statt Weltklasse
Erfrischend ist, dass man ausnahmsweise nicht mehr den Anspruch hat, überall Weltklasse werden zu wollen, wie es frühere Papiere immer wieder übermotiviert ankündigten und häufig schon beim Lesen ein gewisser Realitätsverlust sichtbar wurde. Die Ampel hat realistischere Vorstellungen und nimmt sich vor, mit dieser Digitalstrategie bis 2025 in die Top-10 des europäischen DESI-Vergleiches aufzusteigen, wo wir derzeit auf Platz 13 feststecken. Also vielleicht mal an Slowenien und Österreich vorbeiziehen.
Spannend ist auch, sich die unterschiedlichen Versionen der entstehenden Digitalstrategie anschauen zu können. Vor den Sommerferien kursierte eine kürzere erste Version, die vor allem den Geist der Vergangenheit atmete: Sie begriff Netzpolitik fast ausschließlich als Wirtschafts- und Technologieförderung. Dass Netzpolitik vor allem Gesellschaftspolitik ist, wie es der Koalitionsvertrag der Ampel auch richtig verstanden hatte, kam in dieser Version kaum vor.
In der zweiten Version, über die netzpolitik.org vergangene Woche berichtete, war das dann durch Zuarbeit von Ministerien mit mehr Gesellschaftsbezug und ihren laufenden Vorhaben etwas korrigiert. Einige Versprechungen wie ein „Recht auf Verschlüsselung“ wurden nachträglich in den Text kopiert. Aber wann das wie kommen soll, steht nicht drin. Und auch mehr Gemeinwohlorientierung soll es geben, weil jemand auf dem letzten Meter manchmal das Wort „Gemeinwohl“ in den Text hereinverhandelt hat. Überhaupt wirken die meisten konkreten Punkte wie alter Wein in neuen Schläuchen. Es sind Vorhaben, die bereits die Vorgängerregierung auf den Weg gebracht hat oder Pläne, die man aus der KI-oder Datenstrategie rauskopiert hat.
Das ist auch kein Wunder, denn die Projekte laufen ja noch in den Ministerien und sind mit Haushaltsmitteln ausgestattet – im Gegensatz zu den neuen Vorhaben, für die ein eigenes Digitalbudget geschaffen werden soll. Das müssen aber noch Finanzministerium, Digital und Verkehr, Wirtschaft und Klima sowie Kanzleramt untereinander aushandeln. Mal schauen, wofür dann noch Geld da ist.
Klassiker dürfen da natürlich nicht fehlen. Das „digitale Ehrenamt“ soll schon seit gefühlten Dekaden gestärkt werden. Und Digitalkompetenzen sind richtigerweise total wichtig. Aber immer noch vor allem für die Jungen und die Alten, für die konkrete Programme genannt werden – die Menschen dazwischen müssen sich das mit dem Digitalen leider selber beibringen.
Neuer und positiver klingt der Sound dieser Bundesregierung, dass man endlich mal offene Standards und Open-Source-Software priorisiert einsetzen will. Das muss aber jetzt auch überall – am besten „in der Regel“, wie der Koalitionsvertrag verspricht – umgesetzt werden.
Viele Themen fehlen
Da erkennt man aber auch, was fehlt: Ein ganzheitlicher Blick auf die Herausforderungen der Digitalisierung. Deutlich wird das beim Thema Demokratie. Es ist schön und wichtig, dass ein Rechtsanspruch auf Open-Data kommen soll, aber ohne weitere Maßnahmen wie dem im Koalitionsvertrag versprochenen Bundestransparenzgesetz und der Offenlegung von legislativen Fußabdrücken in Gesetzesprozessen sieht man Teile von Open-Government vor allem unter dem Aspekt der Wirtschafts- und Innovationsförderung.
Am Ende des Papieres werden viele Multi-Stakeholder-Prozesse auf internationaler Ebene aufgezählt, die man verstärken will. Aber wie eine stärkere Einbindung der digitalen Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene aussehen soll, wo man konkreter vorgehen könnte, verrät das Papier nicht. Diese hätte man auch schon in diesen Prozess der Digitalstrategie einbinden können, dann klänge auch alles weniger nach den üblichen Vorlagen von Wirtschafts-Lobbyverbänden wie Bitkom und BDI.
Die Umsetzung wird zeigen, ob es diesmal besser klappt
Was jetzt zählt, ist aber vor allem die Umsetzung. Während das eine Gremium das Digitalbudget verhandelt, sind BMDV, BMI und BMWK für die Weiterentwicklung der nationalen Digitalstrategie federführend. Und dann gibt es noch eine Staatssekretärsrunde mit Vertreter:innen aus allen Ministerien. Neben zahlreichen weiteren Gremien wie dem Digitalrat. An Strukturen mangelt es immer noch nicht. Doch das könnte ein Problem werden: Die letzten Digitalstrategien sind auch daran gescheitert, dass drei Parteien in der Bundesregierung nicht richtig miteinander konnten und ihre Ministerien mehr gegen- als miteinander gearbeitet haben. Jetzt sind es wieder drei, nur in einer anderen Konstellation. Ob es jetzt endlich mal besser wird?
Ein dreiviertel Jahr nach dem Aufbruchsignal des Koalitionsvertrages zeigt die Digitalstrategie, dass davon im Regierungs-Alltag noch nicht alles angekommen zu sein scheint. Es ist ein zaghafter Aufbruch – ich hatte mir viel mehr erhofft. Vor allem sollte dieses Papier nicht das Ende sein, auf das man jetzt die kommenden drei Jahre hinarbeitet, um Ziele abzuhaken. Dafür ist es dann doch zu dünn.
Es rächt sich leider immer noch, dass Digitales zwar für alle irgendwie relevant ist, aber in der ersten Reihe immer noch niemand sitzt, der oder die das wirklich begriffen hat – und auch dementsprechend vertritt. Denn Netzpolitik wird immer noch nicht als das verstanden, was sie vor allem ist: Gesellschaftspolitik.
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