Erfolgreiche Digitalvorhaben sind teuer, vor allem dann, wenn man sie vorher jahrelang verschlafen hat. Um sich das zu sparen, empfiehlt unsere Kolumnistin: Der beste Zeitpunkt für digitale Lösungen ist immer jetzt.
Zwei Thesen zu Beginn:
- Deutsche Digitalvorhaben können tatsächlich gelingen – aber nur wenn es externe Faktoren gibt, die eine zeitnahe Umsetzung politisch unausweichlich machen.
- Gelungene deutsche Digitalvorhaben werden oft als zu teuer wahrgenommen, auch wenn die eigentlichen Kosten Resultat jahrelang aufgeschobener, tiefgreifender, aber notwendiger Veränderungen sind.
Es geht diesmal zwar um den Erfolg deutscher Digitalvorhaben, aber auch um den faden Beigeschmack, dass viele dieser Vorhaben zu lange verschlafen wurden. Was die Umsetzung dann scheinbar zu teuer macht, obwohl die Gründe viel weiter zurückliegen und oft in politisch ignorierten Gelegenheiten zu sehen sind.
Drei Beispiele aus den Krisen der jüngeren Zeit.
Spuren zu Sprossen
Im Jahr 2011 gab es in Norddeutschland eine Epidemie mit enterohämorrhagischen Escherichia coli, kurz EHEC. Dabei führten Bakterien auf Sprossen in mehreren hundert Fällen zu einer Darmerkrankung, teilweise tödlich. Bereits damals war die Übermittlung von relevanten Informationen alles andere als ideal.
Im Juni 2011 stand damals in den Zeitungen: „Gesundheitsexperte: EHEC-Meldung per Post Schuld an Ausbreitung“. Bemerkenswert: Besagter Gesundheitsexperte ist der heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
„Die bisherige Meldekette vom Gesundheitsamt vor Ort über das Landesgesundheitsamt an das Robert-Koch-Institut auf dem Postweg dauert mindestens eine Woche“, meinte Lauterbach damals und setzte sich für eine Überarbeitung der Informationsflüsse ein. Der damalige Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) pflichtete bei: „Das Meldeverfahren gehört auf die Tagesordnung“. Politische Einigkeit ob der notwendigen Veränderung also.
Dann dauerte es, wie bei vielen deutschen Digitalgroßprojekten, lange bis etwas Nutzbares rauskommt. Das lag nicht daran, dass man es versäumt hätte loszulegen. Ein erster Prototyp für das neue System folgte schon 2014, Gesetzesgrundlagen kamen 2017. Aber dann stockte es.
Der schleppende Fortschritt liegt wohl auch an politisch lange verweigerten Personalstellen im Bereich IT beim Robert-Koch-Institut, sogar noch in der Pandemie. Oder wie die Bundesregierung selbst in einer Antwort einmal feststellt: „Diese Verschiebung wurde maßgeblich durch die mangelnde Verfügbarkeit von Ressourcen im IT-Bereich verursacht“.
2020 kam dann die Corona-Pandemie und es wurde erst mal gefaxt. Immerhin wurden Labormeldungen nicht per Brief verschickt wie noch 2011. Faxe waren dafür oftmals dauerbelegt, also ging das wohl in der Realität nur minimal schneller. Die Geburtsstunde der Faxwitze.
Beim Projekt wurde deshalb umpriorisiert, es wurden zuerst Labormeldungen für SARS-CoV2 umgesetzt und, oh Wunder, es ging sehr schnell. Innerhalb von wenigen Wochen wurde bis Mitte 2020 eine erste nutzbare Version eines zeitgemäßen, digitalen Meldesystems für Labormeldungen fertiggestellt, eines mit strukturierten Daten und nach Stand der Technik.
Sogar die Anbindung von Gesundheitsämtern und eines überwiegenden Teils der Labore an das System ging relativ schnell; DEMIS wurde verpflichtend zum Jahr 2021 eingeführt und Anfang 2021 bereits fast flächendeckend genutzt. Das ist für ein System dieser Größe und die Menge der Beteiligten und angebundenen Nutzer*innen echt schnell. Aber: So schnell ging das nur wegen der Unausweichlichkeit der Pandemie.
Der Mythos der stets nur faxenden Gesundheitsämter hat sich aber gehalten.
Wie das wohl ausgesehen hätte, wäre die Digitalisierung der Labordaten früher angegangen worden und wären Labormeldungen schon vor der Pandemie digital übermittelt worden? Opportunitätskosten heißt dieses Verschlafen betriebswirtschaftlich: Kosten, die entstehen, wenn eine Handlungsalternative nicht oder nicht frühzeitig genug ergriffen wurde.
Wie viel Geld und leider auch menschliches Leid dabei gespart hätten werden können, lässt sich schwer beziffern. Anders sieht das bei einem anderen Digitalprojekt aus.
Der Preis des Erfolgs
Bei erfolgreichen Digitalprojekten in der Pandemie muss natürlich die Corona-Warn-App genannt werden. Ganz klar auch ein Produkt der Pandemie, bei dem eine zeitnahe politische Umsetzung unausweichlich war.
Heute sind eigentlich alle grundsätzlich zufrieden mit der Umsetzung „der App“. Digitale Zivilgesellschaft nach anfänglichem kritischen Widerspruch happy, Datenschutz happy, über 45 Millionen Downloads, mehr als 200 Millionen bereitgestellte Tests.
Nicht happy aber ist der Bund der Steuerzahler. „Es muss aber die Frage gestellt werden, ob das nicht auch günstiger zu haben gewesen wäre“.
Die Antwort ist eigentlich einfach: Ja.
Bei einem genaueren Blick auf die Kosten der CWA fällt auf, dass die eigentliche Grundprogrammierung der App an sich mit 20 Millionen ähnliche Kosten erzeugt hat wie etwa die App aus den Niederlanden.
An der CWA teuer wird dann aber die Infrastruktur um die App herum. Etwa die digitale Laboranbindung, welche auch für die Gesundheitsämter zu Beginn der Pandemie nicht vorhanden war – Faxwitz hier einfügen – und die deshalb für die CWA neu (und getrennt davon) geschaffen werden musste.
Oder der Telefonsupport durch die oftmals überfüllte TAN-Hotline, um die ab und zu nicht funktionierende digitale Anbindung von Laboren zu überbrücken und trotzdem Kontakte warnen zu können. Sowie eine anfangs großzügig dimensionierte technische Hotline, die unter anderem beim „Download + Installation der App aus dem Playstore/App Store“ helfen sollte.
Betriebskosten in 2021: durchschnittlich 3,94 Millionen pro Monat, im Jahr 2022 voraussichtlich 2,6 Millionen pro Monat. Analog-digitale Brückenlösungen über Telefon sind einfach teuer.
Damit sind leider auch gute digitale Lösungen wie die CWA vom Fluch der Degitalisierung betroffen: Nicht konsequent eingeführte digitale Lösungen führen irgendwann zu teuren Problemen, die bei konsequenter Digitalisierung vollständig vermeidbar wären.
Degitalisierung ist schlicht teuer und lange verpasste Arbeit an notwendiger digitaler Infrastruktur rächt sich finanziell – spätestens in der nächsten Krise, wenn diese Arbeit schnell und dadurch oft teurer nachgeholt werden muss.
Stille Warntage
Das dritte Beispiel hat leider eine ebenfalls unrühmliche Vorgeschichte und bekam weitere Dringlichkeit wegen einer Katastrophe. Wir bleiben bei Meldeketten.
Am 10. September 2020 warteten wir gespannt und hörten… nichts. Am großen Warntag 2020 sollte eigentlich die Warnung der Bevölkerung im Katastrophenfall geprobt werden, doch es ertönten kaum Sirenen, Apps reagierten spät und der Warntag war eher besinnlich still. Grund dafür war auch die digitale Infrastruktur, weil das zentrale Warnsystem doch nicht so gut zwischen den unterschiedlichen Warn-Apps vermitteln konnte.
Der bisherige deutsche Sonderweg beim Warnen der Bevölkerung mutet ohnehin seltsam an. Ausgerechnet in einem Land, das sich eine eigene Behörde gegen Funklöcher und für eine bessere „mobile und breitbandige Datenübertragung“ leisten muss, setzte das wichtige bundesweite Warnsystem primär auf Smartphone-Apps, die eine Internetverbindung brauchen.
Spätestens mit der Flutkatastrophe im Juli 2021 wurde dann endgültig deutlich, dass beim Warnsystem unbedingter Handlungsbedarf besteht. Beim Warntag 2022 wird erstmals der robustere Mobilfunkdienst Cell Broadcast testweise genutzt – in anderen Ländern bereits lange Usus.
Ich denke, dass wir das mit Cell Broadcast auch hinbekommen werden, verhältnismäßig schnell und gut, und dennoch wird es am Ende wieder zu teuer werden. Kosten von etwa 40 Millionen Euro stehen schon im Raum.
Hohe Opportunitätskosten zwar, die aber mit jedem verpassten Tag weiter steigen könnten – spätestens in der nächsten Krise.
Und die Moral?
Der beste Moment für bessere digitale Lösungen und deren Infrastrukturen ist immer jetzt. Nicht erst in der nächsten Krise. Dann schaffen wir das vielleicht auch etwas entspannter und günstiger – denn eigentlich können wir das.
Stay safe.
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