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Random Acts of Kindness: So monetarisierst Du Omas und Obdachlose auf TikTok

Mann in Boston hält ein Schild mit „Suche Mitmenschlichkeit“ in die Kamera. Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Matt Collamer

Für viele Views auf TikTok gibt es ein paar einfache Schritte. Geh einfach in die Stadt und schau dich um. Vielleicht siehst du dort eine ältere Dame alleine mit ihrem Kaffee an einem Tisch. Sie ist die perfekte Ressource, um Internet-Ruhm zu generieren. Zuerst platzierst du einen Kumpel mit Kamera unauffällig in der Nähe. Dann überraschst du die Dame mit einem Blumenstrauß und demonstrierst deine überbordende Menschlichkeit. Und schließlich stellst du das Video auf TikTok, wo dich 60 Millionen Views und Einnahmen an Werbegeldern erwarten. Fertig!

Solche Videos gibt es auf TikTok wirklich, und Nutzer:innen nennen sie #RandomActsOfKindness, zufällige Akte der Freundlichkeit. #Wholesome, erbaulich sollen die Videos sein. Gemeinsam ist vielen dieser Aktionen aber, dass sie weder zufällig noch freundlich sind. Vielmehr filmen sich Leute gezielt dabei, wie sie vermeintlich Gutes tun, und nutzen das Video vor allem für ihren Erfolg auf TikTok. Haufenweise TikTok-Creator:innen surfen auf dieser Gute-Taten-Masche.

„Entmenschlicht“

Die alte Dame mit dem Blumenstrauß ist nicht erfunden – es gibt sie wirklich. Sie empfand die Aktion des TikTok-Creators nicht als „Akt der Freundlichkeit“, sondern sah sich entmenschlicht. Dem australischen TV-Sender ABC sagte sie:

Er unterbrach meine Ruhe, filmte und lud ein Video ohne meine Zustimmung hoch und machte daraus etwas, das es nicht war – und ich habe das Gefühl, dass er damit ziemlich viel Geld verdient.

Es sei herablassend anzunehmen, dass vor allem ältere Frauen über ein Blumengeschenk von Fremden begeistert seien, so die Betroffene weiter. Und überhaupt seien die künstlichen Dinge, die der TikToker tut, keine zufälligen Akte der Freundlichkeit.

Videos wie das mit der älteren Dame gibt es zuhauf auf TikTok. Nicht immer sind es Blumen, die als zufälliger Akt der Freundlichkeit inszeniert werden. Mal zahlt jemand aus dem Nichts eine Rechnung an der Supermarktkasse , mal spendiert jemand ein extrem hohes Trinkgeld. Gefilmt und abgefeiert werden auch überraschende Jobangebote und  Geschenke für Obdachlose.

Gezielte Inszenierung zum eigenen Vorteil

Der Trend lebt davon, dass wir alle berührt sind, wenn Menschen gut zu anderen Menschen sind. Ich erinnere mich noch an das russische Video, in dem ein Autofahrer einer alten Dame über die Straße hilft. Doch es gibt einen Unterschied zwischen der altruistischen Freundlichkeit, die ein Dritter zufällig filmt, und der gezielten Inszenierung von Freundlichkeit, wie sie gerade in vielen der TikTok-Videos vorkommt. Denn die Inszenierung passiert gezielt, um damit Likes und Follower:innen zu gewinnen.

Nun könnte man natürlich argumentieren: Hey, diese Creator:innen verbreiten weder Hass und Hetze, noch heizen sie Empörungsstürme an oder wollen Leute abkanzeln. Das ist doch viel besser als der Wettkampf der Hater auf Twitter, die das Netz mit ihren überspitzten Statements zu einem giftigeren Ort machen.

Und da ist natürlich etwas dran, denn nicht alle Videos sind inszeniert. Die Begeisterung für das Genre zeigt, dass viele Menschen Solidarität, Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit hochhalten, leben und lieben. TikTok hat in Teilen eine Kultur hervorgebracht, die Kreativität und Witz hochhält, ein Gegenmodell zur verbissenen Empörungsdynamik auf Twitter. Doch „Random Acts of Kindness“ gehören nicht dazu.

Solidarität ist eine Ware

In diesen vermeintlichen Akten der Mitmenschlichkeit zeigt sich das blanke Wesen des Kapitalismus, denn die Videos werden von Anfang an für Kommerz inszeniert, gefilmt und geschnitten. Solidarität wird zur Ware. Wenn ich ein hohes Trinkgeld gebe, um auf TikTok viral zu gehen, dann ist das keine nette Geste, sondern eine Investition in mich selbst.

In einem anderen Video schenkt ein TikTok-Creator einer Angestellten am Counter 78 Dollar, weil sie 78 Prozent Akku auf ihrem Handy hat. Und er bemerkt dazu: Weil der Akku voll sei, sei sie eine gute Angestellte, die nicht während der Arbeitszeit auf dem Smartphone spiele. Da kommt die Verwertungslogik schonungslos zum Vorschein. 

Überhaupt handeln die Akte der Freundlichkeit erstaunlich oft von Geld. Creator bitten Obdachlose um etwas zu Essen, um zu testen, ob sie großzügig sind – nur um ihnen dann selbst Geld zu geben. Mir dreht sich bei dieser Marktlogik der Magen um. Auf einem Blog für Persönlichkeitsentwicklung werden solche „Random Acts Of Kindness“ dann folgerichtig auch als strategisches Instrument der Selbstoptimierung empfohlen. Nächstenliebe, damit Du dich selbst besser fühlst. 

Weltbild der Konkurrenz und Feindseligkeit

Neben den Selbstinszenierenden findet man unter den Hashtags auch ganz viele Videos, die solidarisches Handeln übermäßig bewundern, über den grünen Klee loben und als herausragend stilisieren. Dabei sollte es nichts Besonderes sein, dass Menschen mal eben einen Kinderwagen die Treppe heruntertragen oder der Feuerwehr den Weg frei machen.

Wenn alltägliche, solidarische Handlungen zu extraordinären Akten der Freundlichkeit verklärt werden, dann trägt das letztlich zu einer Abwertung von Mitmenschlichkeit bei. Es sollte eigentlich nichts Besonderes sein, zu helfen. Dahinter steckt ein Weltbild, das davon ausgeht, dass Menschen miteinander konkurrieren und einander feindselig sind. Eine erzkapitalistische Haltung. Die „Random Acts of Kindness“ stärken diese Weltanschauung und sind damit das Gegenteil von solidarisch. Soziale Gerechtigkeit entsteht nicht durch für den Kommerz inszenierte Charity-Freundlichkeit, sondern durch Gesetze, Steuern und ein funktionierendes Sozialsystem.


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