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Roe-Urteil kippt: Massiver Angriff auf reproduktive Rechte

Demonstration für reproduktive Rechte.
Die reproduktiven Rechte von über 26 Millionen Frauen sind nun eingeschränkt. (Symbolbild) Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Gayatri Malhotra

Nun ist eingetreten, was sich bereits seit Monaten abzeichnete: In den Vereinigten Staaten ist das bundesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Der Supreme Court hat gestern die jahrzehntealten Grundsatzurteile „Roe v. Wade“ und „Planned Parenthood v. Casey“ aufgehoben. Sie garantierten seit einem halben Jahrhundert den verfassungsrechtlichen Schutz der Abtreibungsrechte bis zur 24. Schwangerschaftswoche.

Die Konsequenz: Jetzt kann jeder US-Bundesstaat eigene Abtreibungsgesetze geltend machen. In mindestens neun Bundesstaaten ist Abtreibung damit ab sofort verboten, darunter Wisconsin, Utah und Oklahoma. Weitere Verbote werden in den kommenden Tagen erwartet. Insgesamt könnte das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in der Hälfte der US-Bundesstaaten bald massiv eingeschränkt oder ganz abgeschafft sein.

Die New York Times schreibt, betroffen sei das Selbstbestimmungsrecht von über 26 Millionen Frauen im reproduktionsfähigen Alter. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Aufhebung der wegweisenden Urteile zu einer extrem prekären Versorgungssituation von ungewollt Schwangeren führt. Tausende Menschen protestieren für den Schutz der reproduktiven Rechte. 

„Kein Recht auf Abtreibung garantiert“

„Roe war von Anfang an ungeheuerlich falsch“, schreibt der Richter Samuel Alito in der 66-seitigen Erklärung des Supreme Courts. „Wir sind der Meinung, dass Roe und Casey verworfen werden muss.“

Der Supreme Court trifft diese Entscheidung im Rahmen des Falls „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“. Der Fall geht auf ein Gesetz zurück, das der Bundesstaat Mississippi im März 2018 verabschiedet hat. Es verbietet Abtreibungen nach den ersten 15 Schwangerschaftswochen. Die Klinik Jackson Women’s Health Organization (JWHO), die in Mississippi Abtreibungen anbietet, hat vor Gericht gegen das Abtreibungsverbot geklagt. Der Bundesstaat hat daraufhin den Supreme Court gebeten die Präzedenzfälle Roe und Casey und damit das bundesweite verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung aufzuheben. 

In einer gestrigen Mehrheitsentscheidung haben die zuständigen Richter:innen mit fünf Stimmen zu vier Gegenstimmen entschieden, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten kein Recht auf Abtreibung garantiere. „Die Verfassung verbietet es den Bürgern eines jeden Staates nicht, Abtreibung zu regeln oder zu verbieten. Roe und Casey haben sich diese Befugnis angemaßt“, so Alito.

So erschreckend die Entscheidung des Supreme Courts ist, sie kommt wenig überraschend. Ein geleakter Entwurf hat bereits vergangen Monat offenbart, dass der Supreme Court plant das Urteil zu kippen. Pro-Choice-Aktivist:innen machen seit Monaten auf die drastischen Konsequenzen aufmerksam, die ein Post-Roe-Welt mit sich bringt.

Die Post-Roe-Realität

Mehrere Bundesstaaten haben bereits vor der Entscheidung des Supreme Court Gesetze erlassen, die das Abtreibungsrecht verschärfen oder fast ganz abschaffen. Bisher konnten diese „Trigger-Gesetze“ in den jeweiligen Staaten nicht greifen. Jetzt treten sie automatisch in Kraft.

Andere Staaten, etwa Alabama und Mississippi, haben Abtreibungsverbote und Beschränkungen, die bereits vor dem Präzedendzfall Roe gegolten hatten, zwischenzeitlich verfassungswidrig waren und nach Roe wieder greifen können. In neun Staaten greifen bereits seit gestern Abtreibungsverbote, in einigen sind Abtreibungen sogar in Fällen von Vergewaltigungen und Inzest verboten, etwa in Kentucky, Arkansas, South Dakota und Oklahoma. Weitere Verbote sollen folgen.

Das Gutmacher Institute hat bereits vergangenes Jahr ein Schaubild der 26 US-Bundesstaaten bereit gestellt, in denen Abtreibungen mit dem Fall von Roe verboten werden könnten. Auch die New York Times bietet eine Übersicht, die ständig aktualisiert wird.

Diese US-Bundesstaaten kriminalisieren nun sicher oder wahrscheinlich Abtreibungen. - Alle Rechte vorbehalten Guttmacher Institut

Ungewollt schwangere Personen müssen nun für Abbrüche in einen anderen US-Bundesstaat reisen. Strafbar machen sie sich trotzdem. Schwangere aus marginalisierten Gruppen sind besonders betroffen, da ihnen systematisch weniger Ressourcen wie Zeit oder Geld zur Verfügung stehen, um für eine Abtreibung meilenweit zu reisen.

„Wir werden auf jeden Fall Menschen sehen, die gegen ihren Willen gezwungen werden, schwanger zu bleiben“, sagt Neesha Davé gegenüber dem Texas Tribune. Sie ist stellvertretende Direktorin des Lilith Fund, einer Organisation für reproduktive Rechte in Texas. Texas hat bereits im September 2021 ein Gesetz verabschiedet, das Abbrüche nach der sechsten Woche verbietet. Mit der Entscheidung des Supreme Court tickt auch hier die Uhr: In 30 Tagen greift nun automatisch ein fast vollständiges Abtreibungsverbot – selbst in Fällen von Inzest und Vergewaltigung.

Abtreibungen in einer Zeit der digitalen Überwachung

Pro-Choice-Aktivist:innen haben nun noch eine weitere Sorge: Datenspuren im Netz könnten all jene in Gefahr bringen, die potenziell eine Abtreibung vornehmen möchten, sich darüber informieren wollen oder einfach nur schwanger sind. In Staaten, die Abtreibung kriminalisieren, könnten diese Spuren von Strafverfolgungsbehörden genutzt werden und möglicherweise als Beweismittel dienen.

Auch Datenschutzexpert:innen wie Eva Galperin warnen US-Bürger:innen davor, unbesorgt mit Daten umzugehen, die auf eine Schwangerschaft hinweisen können. Galperin ist Direktorin für Cybersicherheit bei der gemeinnützigen Organisation Electronic Frontier Foundation (EFF). Sie schreibt auf Twitter:

Der Unterschied zwischen heute und dem letzten Mal, als Abtreibung in den Vereinigten Staaten illegal war, besteht darin, dass wir in einer Zeit beispielloser digitaler Überwachung leben.

Galperin verweist auch auf die Verantwortung der Tech-Branche: Sie sei nun besonders gefragt, um digitale Rechte in einer Ära nach Roe zu schützen. Zum Beispiel sollen Tech-Unternehmen den Nutzer:innen erlauben mit Pseudonymen auf Dienstleistungen zugreifen zu können. 

Apps, die die Fruchtbarkeit oder Periode tracken, können ebenfalls zur Gefahr werden. Der Datenhändler Narrative hat bereits Daten von Menstruation-Apps zum Kauf angeboten, wie Vice berichtet hat. Potenziell könnten alle Apps, die in irgendeiner Weise mit Gesundheitsdaten arbeiten, sensible Informationen über eine vermutete Schwangerschaft offenbaren. Albert Fox Cahn vom Surveillance Technology Oversight Project (STOP) sagt gegenüber Vice: „Wenn es da draußen eine App gibt, die Gesundheitsdaten sammelt, wird sie bald ein Ziel sein.“ 

Privates Surfen und verschlüsselte Kommunikation

Auch Suchverläufe, in denen Abtreibungsmedikamente erwähnt werden, können als Beweis für einen Schwangerschaftsabbruch dienen. Bisher war es in den Vereinigten Staaten erlaubt Abtreibungspillen per Post zu verschicken. Es ist unklar, wie der Online-Versand nun weitergehen kann und wie sich die Rechtslage auswirken wird.

Der Digital Defense Fund hat deswegen eine Anleitung veröffentlicht, wie Betroffene vermeiden können, dass die Telefongesellschaft den eigenen Browserverlauf einsehen kann. Die Organisation hat sich nach der Wahl von Ex-Präsident Trump gegründet, um der Bewegung für Abtreibungsrechte Sicherheits- und Technologieressourcen bereitzustellen.

Die Aktivist:innen empfehlen ungewollt Schwangeren nun auf Messaging-Apps mit Ende-zu-Ende Verschlüsselung umzusteigen. Außerdem schlagen sie zwei kostenlose Angebote von Virtuellen privaten Netzwerken (VPN) vor. Nutzer:innen können mit diesen privat surfen, ohne dass die Netzwerke protokollieren, was man im Netz tut. 

Infoplakat wie man den eigenen Browserverlauf im Netz schützen kann.
Das macht euren Browerverlauf schwerer einsehbar. - CC-BY-NC-ND 3.0 The Digital Defense Fund & Hazel Mead

Kleiner Etappensieg in Deutschland

Während der Kampf für reproduktive Selbstbestimmung in den Vereinigten Staaten eine enorme Niederlage verzeichnet, konnten Abtreibungsbefürworter:innen in Deutschland zumindest einen kleinen Teilerfolg feiern. Am selben Tag an dem das Roe-Urteil kippte, hat die Bundesregierung das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche unter Paragraf 219a endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Die Bundesregierung schreibt in einem Gesetzentwurf zur Änderung: „Ärztinnen und Ärzte müssen Frauen unterstützen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.“


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