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Vorratsdatenspeicherung: Diplomatenbericht zeigt, dass Mehrheit der EU-Staaten anlasslose Massenspeicherung anstrebt

Frau mit Telefon
Durch die Vorratsdatenspeicherung sollen EU-weit alle Verkehrsdaten der Telekommunikation verdachtslos festgehalten werden. CC-BY-SA 2.0 Ishai Parasol

Aufgrund einer Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz haben wir einen Diplomatenbericht an das Auswärtige Amt zur Vorratsdatenspeicherung erhalten, über den der SPIEGEL Ende Dezember berichtet hatte. Das Dokument vom 23. Dezember 2021 enthält eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer im Juni 2021 von der EU-Kommission initiierten Abfrage unter den EU-Mitgliedstaaten zur Notwendigkeit und Ausgestaltung eines neuen europäischen Regelungsinstruments zur Vorratsdatenspeicherung.

Wir veröffentlichen das Dokument (pdf), das wir teilgeschwärzt und gebührenfrei erhalten haben. Die Schwärzungen betreffen nur solche Textstellen, die sich nicht auf die im Informationsfreiheitsgesetz-Antrag verlangten Informationen beziehen.

Jahrelanger politischer und juristischer Streit

Hinter dem Begriff Vorratsdatenspeicherung steckt das Vorhaben, EU-weit sämtliche Verkehrsdaten der Telekommunikation sowie damit zusammenhängende Standortdaten aller Menschen anlasslos zu erfassen, um auf sie im Falle von polizeilichen Verdachtsfällen oder Ermittlungen zugreifen zu können. Das beträfe pro Tag viele Milliarden Datensätze, die bei der Telekommunikation anfallen.

Der politische und juristische Streit darum läuft seit vielen Jahren: Schon 2006 wurde die Vorratsdatenspeicherung in der EU per Richtlinie eingeführt. Der Europäische Gerichtshof kassierte diese Richtlinie zur anlasslosen Speicherung zuerst im Jahr 2014 als grundrechtswidrig. Weitere EuGH-Urteile gegen die Vorratsdatenspeicherung folgten, in naher Zukunft dürfte das oberste Gericht das nächste Urteil fällen.

Politisch ist das hochumstrittene Vorhaben trotz der EuGH-Urteile und weiterer nationaler Höchstgerichtsentscheidungen jedoch noch nicht erledigt, wie der Diplomatenbericht zeigt. Denn eine Mehrheit der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten will weiterhin eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung europaweit verpflichtend machen. Die bereits ergangenen und die noch ausstehenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs sollen allerdings berücksichtigt und abgewartet werden.

Für Deutschland ist ein politisches Umschwenken bereits eingeleitet: Der neue Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) plant, die Vorratsdatenspeicherung „endgültig aus dem Gesetz“ zu streichen. An die Stelle der anlasslosen soll eine gezielte Speicherung von Telekommunikationsdaten treten. Laut dem Diplomatenbericht hat eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten dagegen allerdings große Bedenken und zweifelt die rechtliche und technische Umsetzbarkeit an.


Text der Diplomatischen Korrespondenz

I. Zusammenfassung und Wertung

Die Tagesordnung der COPEN Allgemeine Fragen am 20. Dezember 2022 beinhaltete
[geschwärzt]
eine Zusammenfassung der Ergebnisse der von KOM im Juni 2021 initiierten Abfrage zu der Notwenigkeit (sic) und Ausgestaltung eines neuen europäischen Regelungsinstruments zur Vorratsdatenspeicherung,
[geschwärzt]

II. Im Einzelnen

1. Vorratsdatenspeicherung

Präs erläuterte, dass die heutige Sitzung dazu diene, die Ergebnisse der von KOM im Juni 2021 initiierten Abfrage zu der Notwenigkeit und Ausgestaltung eines neuen europäischen Regelungsinstruments zur Vorratsdatenspeicherung erstmalig vorzustellen.

KOM führte aus, dass das Non-paper Möglichkeiten aufzeige, wie die Thematik der Vorratsdatenspeicherung künftig behandelt werden könnte, um die Diskussion unter Berücksichtigung der jüngsten Urteile des EuGH zu fokussieren. Die Rückmeldungen und Einschätzungen der einzelnen MS seien aus Sicht von KOM entscheidend, um eine Lösung zu finden, die einerseits zum einem effektiven Schutz der öffentlichen Sicherheit beitrage, gleichzeitig aber die europäischen Grundrechte in der Weise beachte, wie es der Rechtsprechung des EuGH vorgebe. Vor diesem Hintergrund bedankte sich KOM bei allen MS für ihre Rückmeldungen.

Insgesamt, so KOM, hätten 24 MS schriftlich zu den Diskussionspunkten Stellung genommen, wobei einige MS ausdrücklich darauf hingewiesen hätten, dass sie sich noch keine abschließende Meinung zu der Frage der Notwendigkeit eines europäischen Regelungsinstruments gebildet hätten. Die Stellungnahmen seien unterschiedlich detailliert gewesen, bei der Auswertung habe man jedoch alle Stellungnahmen berücksichtigt und einbezogen. KOM wies darauf hin, dass das Non-Paper trotz der Tatsache, dass es als vertraulich eingestuft worden sei, weitergegeben worden sei. Dies habe zu Auskunftsersuchen geführt, worüber man die einzelnen MS in Kenntnis gesetzt habe. Sieben MS hätten sich dazu entscheiden, dass die Antworten veröffentlicht werden könnten, die Mehrheit der MS habe dies aber abgelehnt. Vor diesem Hintergrund gebe man die Zusammenfassung der Rückmeldungen auch nur anonymisiert wieder.

KOM trug vor, dass sich lediglich fünf MS für eine rein nationale Herangehensweise bei der Regelung der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen hätten. Ein weiterer MS hätte sich zumindest offen für eine entsprechende Lösung gezeigt. Zudem hätten mehrere MS betont, dass eine nationale Regelung zumindest dann vorzugswürdig sei, wenn eine europäische Regelung strikter ausgestaltet sei als die Vorgaben des EuGH es zuließen.

Die Aussprache einer unverbindlichen Empfehlung zur Speicherung von Verkehrsdaten hätten die meisten MS als keine zielführende Lösung bewertet. Eine solche könne allenfalls als Rückfalloption in Betracht kommen.

KOM führte sodann aus, dass sich eine Mehrheit der MS für ein europäisches Regelungsinstrument ausgesprochen hätten. Dabei seien unter anderem folgende Kernpunkte von den meisten MS hervorgehoben worden:

  • ein europäisches Instrument dürfe nicht strikter ausgestaltet sein, als die Vorgaben des EuGH,
  • die Kriterien „serious crime“ und „public security“ bzw. die Benennung von zuständigen Behörden sollten nicht auf EU-Ebene harmonisiert werden, da die nationalen Regelungen länderspezifisch seien,
  • die derzeit noch anhängigen Verfahren vor dem EuGH seien abzuwarten,
  • die Diskussionen zwischen den einzelnen MS seien fortzuführen.

Zu dem Vorschlag eines gemischten Ansatzes mit nationalen Regelungen auf der einen und europäischen Regelungen auf der anderen Seite hätten die wenigsten MS Stellung bezogen. Drei MS hätten in diesem Zusammenhang betont, dass der Aspekt der nationalen Sicherheit in die alleinige Kompetenz der MS falle.

KOM führte zur Frage der Speicherung von Verkehrsdaten zum Zwecke der nationalen Sicherheit aus, dass die Mehrheit der MS bekundet habe, entsprechende Regelungen abzulehnen, da Aspekte der nationalen Sicherheit in die alleinige Kompetenz der MS fallen. Lediglich zwei MS hätten sich für eine entsprechende Regelung ausgesprochen, drei weitere MS hätten Interesse bekundet, bestimmte Fragen im Rahmen der COPEN zu diskutieren.

Sodann ging KOM auf eine mögliche gezielte Speicherung von Daten ein. Insoweit habe die Mehrheit der MS große Bedenken sowohl zu der rechtlichen als auch zu der technischen Umsetzbarkeit bekundet. Insgesamt hätten die MS dieses Instrument eher als theoretische Möglichkeit qualifiziert, die praktisch indes nicht umzusetzen sei. In rechtlicher Hinsicht sei von den MS insbesondere hervorgehoben worden, dass ein solches Instrument zwingend zu einer Diskriminierung bestimmter Personengruppen führe. Weiter befürchteten die MS, dass das Prinzip der Unschuldsvermutung verletzt werden könne. Teilweise seien auch datenschutzrechtliche Bedenken hervorgehoben worden. Zudem hätten die MS betont, dass sich nicht voraussagen lasse, welche Verkehrsdaten welcher Personen aus welchem Gebiet und in welchem Zeitraum zur Bekämpfung der schweren Kriminalität benötigt würden. Die Bildung bestimmter geographischer Gebiete lasse schließlich befürchten, dass sich kriminelle Aktivitäten auf bestimmte Gebiete konzentriert. Für die Bekämpfung von Computerkriminalität seien geographische Kriterien von vorneherein untauglich. Auch in technischer Hinsicht hätten die MS eine Vielzahl von Hürden benannt. Die technische Umsetzung sei demnach nicht nur kostspielig und langwierig, sondern in bestimmten Gebieten insgesamt nicht umsetzbar.

Mit Blick auf einen sog. Quick-freeze Mechanismus habe lediglich ein MS bekundet, ein solches Verfahren aktuell im nationalen Recht umzusetzen. Der MS habe diesen Ansatz indes als nicht erfolgreich bewertet. Auch die übrigen MS hätten zu Bedenken gegeben, dass sich die Strafverfolgung bei einem Quick-freeze-Mechanismus abhängig von dem Speicherverhalten der Provider mache. Die Daten könnten damit nur erfasst werden, wenn und soweit sie bei den Betreibern bspw. zu Abrechnungszwecken noch vorhanden seien, so dass ein einheitlicher europaweiter Ansatz damit nicht gewährleistet werden könne.

KOM führte sodann aus, dass die Mehrheit der MS eine Speicherung der Quellen-IP-Adresse als erforderlich, aber nicht ausreichend bewertet hätten. Insbesondere hätten die MS betont, dass aufgrund des Umstands, dass hunderte oder gar tausende Nutzer im Zuge der sog. CG-NAT Technologie dieselbe IP-Adresse zugewiesen bekämen, neben der IP-Adresse weitere technische Merkmale gespeichert werden müssten, wie beispielsweise die Port-Nummer, die IP-Adresse des Adressaten sowie die Zeitstempel. Ein MS habe insoweit vorgeschlagen, dass ein sog. „NetFlow“- Protokoll verwendet werden müsse, was ein interessanter Ansatz sei. Andere MS hätten betont, dass auch OTT Anbieter verpflichtet werden müssten, IP-Adressen zu speichern.

Mit Blick auf die vom EuGH entwickelte Kategorie der Daten der zivilen Identität („civil identity data“) berichtete KOM, dass viele MS problematisiert hätten, welche Datenkategorien hiervon umfasst seien. Dies bedürfe weiterer Diskussion. Ein MS habe erklärt, dass eine Speicherung von IP-Adressen und Daten der zivilen Identität ein erster Ansatz sein könne, auf den man die weiteren Diskussionen stützen könne.

Zusammenfassend legte KOM dar, dass man zunächst die weiteren Urteile des EuGH abwarten wolle, von denen man sich die weitere Klärung noch offener Fragen erhoffe.

[geschwärzt]


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