Ist das Kunst oder ein Systemabsturz? Weder noch. Es ist eine Vision – genauer: Terravision, dass weltweit erste, komplett virtuelle, dreidimensionale Abbild der Erde. 1994 können die Besucher:innen der „Internationalen Fernmeldeunion“ (ITU) mit Terravision zum ersten Mal um die Erde fliegen.
Dabei schien es in den 90ern unmöglich, ein solches Programm technisch umzusetzen. Die Berliner Designagentur Art+Com, damals eine Gruppe aus Hackern und Künstlern, fand dennoch einen Weg. Als Beitrag der Deutschen Telekom zur ITU in Kyoto zählt Terravision zu den Sensationen der Messe.
David verklagt Goliath
Die Begeisterung bleibt auch nach der ersten Präsentation in Japan. Axel Schmidt war einer der Köpfe hinter Terravision. Er erzählt in einem Interview mit dem Spiegel:
Terra Vision entwickelte sich zu einem echten Show-Projekt. Wir hatten einen großen drehbaren Erdball, mit dem man auf dem Bildschirm navigieren konnte. Damit sind wir on the road gewesen. (…) Bei einem Staatentreffen in Brüssel stand plötzlich der damalige US-Vizepräsident Al Gore neben uns, der war total begeistert.
Geld verdienten die Erfinder laut Schmidt jedoch nicht mit dem Programm. Sie hätten „businessmäßig Lichtjahre zurück[gelegen]“. Die millionenschwere Idee hinter Terravision habe sich schließlich Google vergolden lassen. Der Tech-Konzern präsentierte sein Geokarten-Programm Google Earth 2005, also elf Jahre nach Kyoto.
Die Version von Art+Com lautet: Die Wurzeln von Google Earth liegen in Deutschland. Sie werfen Google vor, ihren Programmcode zu nutzen. 2014 beginnt schließlich der Prozess über den Vorwurf der Patentrechtsverletzung durch Google („ART+COM Innovationpool GmbH vs. Google Inc.„) vor dem Bundesbezirksgericht Delaware.
Auf dieser Geschichte beruht die Netflixserie „The Billion Dollar Code“. Drehbuchautor Oliver Ziegenbalg und Regisseur Robert Thalheim widmen sich in den insgesamt vier Folgen dem Algorithmus hinter Terravision und dem Geschworenenverfahren. Dabei wechselt die Handlung immer wieder zwischen der Prozessebene und Rückblenden.
Realität mit einer Prise Drama
Hinsichtlich der technischen und rechtlichen Details bleibt „The Billion Dollar Code“ zumeist nah an den Fakten. Die Aussagen während der Befragungen sowie im Prozess 2014 etwa finden sich zu großen Teilen wortgleich in den Gerichtsakten. Übrigens: Entstanden ist die Serie nicht an den Originalschauplätzen – sondern in Budapest. Denn Berlin fehlt heute im Zeichen der Gentrifizierung eindeutig der abgeranzte Charme von damals.
Wie intensiv die Vorbereitung zur Serie war, thematisiert Netflix in einem eigenen Making-of. Die Autoren sahen die Gerichtsakten ein, führten Gespräche mit Zeitzeugen und Interviews mit den Beteiligten.
Die Hauptcharaktere von „The Billion Dollar Code“, Carsten Schlüter und Juri Müller vereinen jeweils verschiedene reale Beteiligte.
Juri Müller ist der Prototyp eines Nerds aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs der Neunziger Jahre. In seiner Figur verschmelzen die Programmierer Axel Schmidt und Pavel Mayer. Gespielt wird Müller von Mišel Matičević, bekannt als „Der Armenier“ Edgar Kasabian aus Babylon Berlin und Marius Ahrendt in den Rückblenden.
Der andere Hauptcharakter ist Carsten Schlüter, Kunststudent und Teilzeit-DJ. Er basiert auf dem inzwischen verstorbenen Künstler und Unternehmer Joachim Sauter sowie der Künstler Gerd Grüneis. Den älteren Schlüter spielt Mark Waschke, bekannt aus der Netflixserie „Dark“, sein jüngeres Ich verkörpert Leonard Scheicher.
Am Anfang alles Neuland
Trotz aller Realitätsnähe versteckt „The Billion Dollar Code“ dabei nicht, die Geschichte aus subjektiver Sicht zu erzählen und steigt mit folgenden Worten Schlüters ein:
Nur unsere Geschichte, unsere Geschichte kennt kein Mensch. Wir wurden darum betrogen – aber das werden wir jetzt ändern!
Und so beginnt die Story von Terravision, im Berlin der 90er: Techno gibt den Takt vor, der Osten der Stadt bietet illegale Clubs, ein Konto hat keiner (abgesehen vom Schwaben im Team) … Dafür aber „die beste Zeit unseres Lebens“, wie Schlüter in seiner Aussage betont.
Die Wege der Hauptfiguren kreuzen sich zufällig in einem Techno-Club, als Juri Müller Carsten Schlüter anbietet, ein Kunstprojekt zu verbessern, das dieser als Installation über der Tanzfläche ausstellt. Ein Brainstorming beim Döneressen später sitzen die beiden schließlich in der Empfangshalle der Deutschen Telekom.
Diese muss, als staatliches Unternehmen, in der Nachwendezeit in Zukunftsprojekte in Berlin investieren. Über die Frage, ob man da mit Terravision auf das richtige Pferd setzt, herrscht Skepsis: Neuland wie dieses betritt man in Deutschland bekanntermaßen mit Vorsicht. Am Ende gibt es dennoch mehr als eine Million DM von der Telekom. Deadline ist die ITU in Kyoto Ende 1994.
Neoliberale Hippies
Weitere Rückblenden zeigen, dass Schlüter und Müller nach dem Erfolg in Kyoto und Präsentationen auf der ganzen Welt, ins Silicon Valley reisen. Dabei wird Stück für Stück ein Zwiespalt sichtbar, der fast schon sinnbildlich für die Branche ist. Auf der einen Seite Innovationen, Idealismus und Vision auf der anderen Egoismus, Marktdenken und Gewinnorientierung.
Die beiden treffen in Kalifornien auf Brian Andersson (Lukas Loughran). Dieser ist der (fiktive) Chef von Silicon Graphics, der damals führenden Firma für digitales Design. Insbesondere Juri Müller himmelt ihn an „wie andere Leute Popstars“, kommentiert Schlüter die Zeit in den USA.
Wo die naive Bewunderung hinführt, kommt fast schon banal daher. Es wird Anderson sein, der später für Google den Earth-Algorithmus entwickelt. So banal sich die Geschichte anfühlt, so exemplarisch ist sie dabei. Google, Facebook oder Apple – die Silicon-Valley-Konzerne bedienen sich im Zweifel auch an den Ideen anderer.
Was die wert sein können, zeigt die Klage eines Informatikers der Universität Yale: David Gelernter bekam zunächst 625 Millionen Dollar zugesprochen für Ideen, die Apple unter anderem in Spotlight und Time Machine umsetzte. Das Unternehmen gewann die Berufung, wodurch sich die Summe deutlich verringerte. Leisten können sich einen solchen Prozess die wenigsten.
Charaktere mit Hang zu Klischees
Die zweite Ebene der Geschichte, die sich um das Verhältnis und die Freundschaft zwischen Schlüter und Müller dreht, ist dagegen fiktiv. Die Protagonisten sprechen zum Zeitpunkt der Befragung nicht mehr miteinander. Für Juri Müller ist es sogar Bedingung, seinem ehemaligen Freund bei der Prozessvorbereitung nicht zu begegnen.
Trotz guter Besetzung und schauspielerischem Können funktioniert dieser emotionale, persönliche Aspekt der Handlung, besonders in den Rückblenden, nicht immer. Denn wenn es zu sehr menschelt, ruckelt die Serie. Szenen, die einem dramaturgischen Zweck dienen, wirken im Vergleich teils konstruiert.
Die Charaktere driften hier öfter ins Klischeehafte, etwa Juri Müller, der Sätze sagt wie:
Daten sind die Pershings der Zukunft. Wer die Macht über die Daten hat, hat die Macht über die Welt. Und wenn wir nicht dagegen ankämpfen, dann gehören in Zukunft alle unsere Daten den Falschen.
Falls noch unklar sein sollte, wer der Nerd der Serie ist, gibt es Rückblenden: Juri, der als Kind mit Joystick am Computer zockt – Juri, der auf dem Sprungturm eine Panikattacke hat – Juri, der während des Flugs nach Japan mitten in einem Jahrhundertsturm seelenruhig Code schreibt.
Deutschland deine Digitalisierung
Gut funktioniert die erweiterte Wirklichkeit dagegen visuell, was Zeitgeist und Stimmung betrifft. Hier überzeugt „The Billion Dollar Code“ mit starken Bildern. Viele originale Einspieler sorgen dafür, dass das ganze dabei nicht von nostalgisch in kitschig kippt.
Zu sehen sind unter anderem Ausschnitten der damaligen Berichterstattung, etwa über den BTX-Hack des CCC 1984. Dieser machte Sicherheitslücken im System der Bundespost (die später unter anderem in der Deutschen Telekom aufging) öffentlich und sorgte medial für Furore. Strafrechtliche Konsequenzen hatte das Ganze nicht – es gab schlichtweg noch keine Gesetze wie den Hackerparagrafen.
Womit wir bei einem sehr deutschen Thema wären, das „The Billion Dollar Code“ aufgreift. Die Rede ist von Digitalisierung – oder eben einem Mangel an selbiger. Dass das Problem nicht erst seit Scheuer und Spahn besteht, zeigt der Satz eines Telekom-Mitarbeiters in der Serie:
Ja, ich weiß, man liest jetzt überall über die Zukunftstechnologie Internet, aber das wird nicht wirklich über den wissenschaftlichen Betrieb hinauskommen. (…) Da haben wir bei der Telekom etliche Studien zu. Die sind wasserdicht.
Zwar ist das Unternehmen dankbar für den Erfolg in Kyoto, allerdings nicht zu weiteren Investitionen bereit. Das bringt den deutschen Mangel an Innovationswillen auf den Punkt und macht klar, dass die Entwickler von Terravision auch an einer „German Angst“ angesichts von so viel Neuland gescheitert sind.
Die Macht der Bilder
Ebenfalls ein originaler Ausschnitt ist der visuelle Videobeweis: der direkte Vergleich von Google Earth und Terravision. Angesichts dessen fällt es als Zuschauer schwer, sich freizumachen von der Frage: Wie kann es sein, dass sich die Programme derart ähneln – ohne, dass einer abgeschrieben hat? Dieser Eindruck wirkt stärker nach als jedes Verfahren.
Im Grunde genommen vereinen die Macher der Serie in „The Billion Dollar Code“ zwei archetypische Erzählungen des Internetzeitalters und der Netzkultur. In der Beziehung von Schlüter und Müller zueinander geht es um die Rollen des Verkäufers und des Nerds, in bester Jobs-Wozniak-Dynamik.
Das Verhältnis zu Google dagegen erzählt die Serie als David-gegen-Goliath-Geschichte. Die Charaktere von Schlüter und Müller sind vor allem Visionäre, ohne ökonomische Absichten. Sie stilisiere ihre Mandanten als „Robin Hoods des Internet“, wirft dann auch Google-Vertreter Eric Spears (Seumas Sargent) an einer Stelle der Anwältin von Terravision, Lea Hauswirth (Liviana Wilson) vor.
Diese Geschichten lassen sich überall erzählen. In „The Billion Dollar Code“ entsteht so ein sehenswertes Gerichtsdrama: spannend erzählt, mit der richtigen Menge Nostalgie und – trotz einiger Klischees – gut gespielter Charaktere. Das dürfte auch außerhalb Deutschlands Zuschauer begeistern.
„The Billion Dollar Code“ ist seit 07. Oktober auf Netflix zu sehen. Drehbuch: Oliver Ziegenbalg, Regie: Robert Thalheim, u.a. mit: Mark Waschke und Mišel Matičević.
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