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Robert-Koch-Institut: Widersprüche zur Wirkung der Corona-Warn-App

FFP-Maske und Smartphone auf einem Tisch

Vor einem Jahr erschien die Corona-Warn-App in den App-Stores von Apple und Google. Jetzt haben das Robert-Koch-Institut (RKI) und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) zum Jahrestag eine erste Zwischenbilanz gezogen. Die App sei nicht der Heilsbringer, als der sie gehandelt wurde, sagte ein Sprecher des BMG, die Erwartungen waren teils überzogen. Sie leiste jedoch einen relevanten Beitrag zur Eindämmung der Pandemie.

Bis zu 230.000 App-Nutzer*innen seien nach einer roten Warnung positiv getestet worden, das zeige eine erste Auswertung, die das Ministerium Anfang der Woche vorstellte und per Pressemitteilung verschickte. Darin schwingt mit: In diesen Fällen konnte die Warn-App womöglich weitere Infektionen verhindern. Daten aus den Gesundheitsämtern, die wir veröffentlichen, zeichnen jedoch ein anderes Bild. Laut ihnen folgte weniger als ein Prozent der erkannten Infektionen auf eine Warnung durch die Anwendung. Wie kommt dieser Widerspruch zustande?

Zwischenbilanz nach Umfrage

Bisher galt: Ob das Vorzeigeprojekt des BMG etwas nützt, darüber ließen sich keine Aussagen treffen. Denn die Corona-Warn-App arbeitet anonym und dezentral. Sie sammelt bewusst nicht mehr Daten als für eine Warnung notwendig sind. Die Folge: Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der App – wie viele Menschen sie warnt, wie schnell, oder wie viele der Gewarnten tatsächlich positiv testen – waren nicht möglich.

Doch das Robert-Koch-Institut konnte für einen Teil der Nutzer*innen dennoch Daten sammeln und so die Wirkung zumindest schätzen. Zum einen konnten Nutzer*innen seit Anfang März freiwillig technische Daten in der App spenden, etwa zu Risikobewertung oder ihren Testergebnissen. Das haben laut Ministerium bis Anfang Juni acht Millionen Personen getan.

Zum anderen führte das RKI eine freiwillige Onlinebefragung durch, zu der es Nutzer*innen einlud, die eine rote Warnung („erhöhtes Risiko“) in der App erhalten hatten. Sie fand in zwei Stufen im Abstand von fünf Tagen statt. Im Zeitraum vom 4. März bis zum 27. Mai haben laut Ministerium mehr als 15.000 Personen daran teilgenommen. Auf diesen beiden Erhebungen basiert die offizielle Zwischenbilanz des Gesundheitsministeriums.

Bis zu 230.000 Infizierte gewarnt

Rund zwei Drittel der Befragten gaben an, von der Warnung überrascht gewesen seien. 65 Prozent erklärten bei der ersten Befragung, nun einen Test machen zu wollen. In der Folgebefragung gaben 86 Prozent an, einen Test gemacht zu haben. Und: Insgesamt wurden 6 Prozent der Teilnehmenden laut der Folgebefragung tatsächlich positiv getestet. Diese so genannte sekundäre Befallsrate – wie viele Menschen stecken sich nach einem Risikokontakt an – entspricht damit in etwa dem Wert, den man auch in der analogen Kontaktpersonennachverfolgung durch die Gesundheitsämter sieht.

Corona-Warn-App zeigt erhöhtes Risiko an
So sieht es aus, wenn die Corona-Warn-App ein erhöhtes Risiko anzeigt. - Alle Rechte vorbehalten RKI

Das Ministerium kombinierte nun diese Ergebnisse aus der Befragung mit den Informationen aus der Datenspende, um eine Hochrechnung zu erstellen. Die Auswertung der Spende habe ergeben, dass eine Positivmeldung in der App im Schnitt zur Warnung von fünf bis zehn weiteren Nutzer*innen führt, teilt das Ministerium mit. Rechne man diese Stichprobe auf die Zahl der täglichen Warnungen hoch – auf der Höhe der letzten Welle waren es rund 4.000 – lande man bei mehr als 20.000 bis 40.000 Personen, die täglich mit einer roten Kachel gewarnt werden. Von diesen würden sich wiederum mindestens 16.000 testen lassen und mindestens 1.000 würden tatsächlich positiv auf das Virus getestet.

Ausgehend von allen positiven Testergebnissen, die seit Launch in der App geteilt wurden – knapp 475.000 – käme man so auf eine Zahl von mindestens 2,4 Millionen roten Warnungen und 1,9 Millionen Tests, die aufgrund der Corona-Warn-App durchgeführt wurden. „Hieraus folgen zwischen 110.000 bis 230.000 CWA-Nutzende, die nach einer roten Warnung positiv getestet wurden.“ BMG und RKI betonen, dass es sich bei den nun veröffentlichten Zahlen um eine erste Einschätzung handle.

Daten aus Gesundheitsämter zeichnen anderes Bild

2,4 Millionen Warnungen. 110.000 bis 230.000 dadurch erkannte infizierte Nutzer*innen, noch dazu überwiegend Menschen, die sonst womöglich gar nicht von einem Risiko erfahren hätten. Diese Zahlen klingen beeindruckend. Doch sie stehen im Widerspruch zu einer anderen Datenquelle.

Zwar schickt die Corona-Warn-App anders als etwa die Luca-App keine Daten direkt an die Gesundheitsämter. Indirekt gelangen sie aber sehr wohl dorthin: über die gewarnten Personen. So sammeln seit Herbst 2020 auch die Gesundheitsämter Informationen zur Wirksamkeit der App. Diese Daten hat das RKI ebenfalls ausgewertet. Es macht sie allerdings nicht öffentlich. netzpolitik.org hat sie als Ergebnis einer Anfrage auf dem Portal FragDenStaat nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) erhalten (Link).

Woher stammen diese Daten? Wer eine rote Warnung in der App bekommt, kann sich beim zuständigen Gesundheitsamt melden und einen PCR-Test machen lassen. Ist diese Person positiv, wird sie als Fall aufgenommen und früher oder später übermittelt das Amt den Fall an das zuständige RKI.

In der dafür vorgesehen Fachanwendung SurvNet findet sich seit Herbst 2020 neben zahllosen anderen Angaben auch die optionale Frage, wie der Fall bekannt geworden sei: etwa über die klassische Kontaktpersonennachverfolgung des Gesundheitsamtes, durch einen Test oder bei einer Ausbruchsuntersuchung. Und für Fälle, die über eine Warnung in der App zum Amt kamen, gibt es dort eine eigene Kategorie: die Corona-Warn-App.

Screenshot aus der Fachanwendung SurvNet
Im Programm SurvNet des RKI geben Mitarbeiter*innen des Gesundheitsamtes an, wie ein Fall bekannt wurde. Eine Option: Corona-Warn-App. - CC-BY 2.0 netzpolitik.org

Eine Linie knapp über Null

Laut diesen Daten wurden die allermeisten Fälle, bei denen überhaupt eine Angabe gemacht wurde, durch Tests und Reihenuntersuchungen bekannt, wie sie etwa in Schulen, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern oder Betrieben regelmäßig gemacht werden. Anfang des Jahres kam es hier zu Spitzenwerten von mehr als 30.000 Fällen am Tag. Auch die persönliche Kontaktnachverfolgung der Gesundheitsämter deckte Tausende Fälle pro Woche auf.

Ganz unten auf der Grafik ist eine rote Linie, sie verläuft durchgehend bei knapp über Null. Es ist der Anteil der Corona-Warn-App.

Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle Ende 2020 wurden in einer Woche knapp 17.500 neue Fälle bei den Ämtern bekannt. Mehr als 32.000 fand man mit Tests und Reihentests. 106 kamen über die Corona-Warn-App.

Anfang April, Deutschland bereitete sich auf den dritten Lockdown vor, wurden in einer Woche 11.000 Fälle bekannt. 61 über die Corona-Warn-App.

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Beitrag der App bleibt überschaubar

Nach Ansicht des RKI sind die Daten nicht repräsentativ. Denn die Angabe, wodurch ein Fall im Gesundheitsamt bekannt geworden ist, ist freiwillig. "Leider nutzen viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter die Möglichkeit nicht, bei der Eingabe eines neuen Falls auch anzugeben, wie dieser Fall ihnen bekannt wurde", schreibt die Rechtsabteilung. Für rund 46 Prozent aller COVID-19-Fälle seit dem Herbst wurde diese Angabe allerdings übermittelt, auch das geht aus den Daten hervor. Sie zeigen also sehr wohl eine Tendenz.

Handelt es sich dabei um verzerrte Daten, etwa weil Mitarbeiter*innen in den Ämtern die Kategorie nicht auswählen, obwohl jemand über die App gewarnt wurde? Das ist möglich. Diese Fälle würden dann in der Kategorie "Unbekannt" landen. Auch wird es zahlreiche Fälle geben, in denen per App Gewarnte sich direkt testen lassen und erst der positive Labortest das Gesundheitsamt auf den Plan ruft. Diese würden dann der Kategorie "Tests" zugerechnet.

Doch selbst wenn die Zahl der per Corona-Warn-App erkannten Fälle in Wirklichkeit zehnmal so hoch wäre wie angegeben, bliebe ihr Anteil für die Eindämmung der Pandemie sehr überschaubar. Im Vergleich mit anderen Maßnahmen der Gesundheitsämter ist sie das schwächste Werkzeug.

Die Wirkung von Kontaktverfolgungs-Apps wurde inzwischen in mehreren Ländern wissenschaftlich untersucht, darunter Frankreich, Spanien, Italien oder Großbritannien. Trotzdem ist es bislang schwer zu fassen, wie stark sie tatsächlich zur Eindämmung der Pandemie beitragen. Denn dies hängt von zahlreichen weiteren Faktoren ab, etwa von den geltenden Kontaktbeschränkungen, der Verfügbarkeit und Geschwindigkeit von Tests und den Möglichkeiten, sich nach einer Warnung zu isolieren. Im Herbst 2021 soll auch für die deutsche Corona-Warn-App eine ausführliche wissenschaftliche Evaluation folgen, sagt das Ministerium.

Womöglich sollte man es mit dem Sprecher des Gesundheitsministeriums halten. Am Montag sagte dieser, die Erwartungen an die App seien von Beginn an überzogen gewesen. Sie leiste einen epidemiologischen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie. Oder wie der Softwareentwickler Henning Tillmann sagt: "Die Corona-Warn-App verdient eine uneingeschränkte Empfehlung, weil sie nicht schaden kann".


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