Eine Gesamtschau soll zeigen, wie sich verschiedene Überwachungsmaßnahmen gemeinsam auf die Grundrechte auswirken. In einer Ausschreibung wird deutlich, in welche Richtung das gehen könnte. Und was am Ende dazu führen könnte, dass es bei einer Teilrechnung bleibt.
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP nahmen sich die Parteien bis Ende 2023 eine Überwachungsgesamtrechnung vor. „Die Sicherheitsgesetze wollen wir auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren“, heißt es dort. Alle künftigen Gesetze sollen dann von einer so genannten „Freiheitskommission“ betrachtet werden: eine Gruppe unabhängiger Fachleute, die ihre Auswirkungen einschätzen soll.
Bis Ende 2023 wird es nun nicht klappen, aber am Mittwoch veröffentlichte das Bundesinnenministerium immerhin eine Ausschreibung. Bis zum 22. Juni können sich wissenschaftliche Forschungsteams bewerben, wenn sie die deutschen Überwachungsbefugnisse evaluieren wollen.
Sie sollen eine „wissenschaftliche und evidenzbasierte Untersuchung“ erstellen, „die aufzeigt, welche Auswirkungen das Bestehen und die praktische Anwendung der Überwachungsbefugnisse … zurechenbar auf Freiheit und Demokratie haben“, steht in der Leistungsbeschreibung. Ein Jahr werden die Forschenden dafür Zeit haben, bis Ende 2024 soll die Auswertung fertig sein.
Mehr als die Summe der Einzelteile
Die Aufgabe ist komplex. Es gibt viele Gesetze, die sich auf unsere Freiheit auswirken. Und am Ende zählt nicht nur die Rechtsvorschrift, sondern auch, wie und wie häufig Behörden diese anwenden.
Die Ausschreibung des Innenministeriums macht daher Einschränkungen: Die Forschenden sollen sich auf einen bestimmten Katalog von Gesetzen konzentrieren. Dazu zählen die „klassischen Sicherheitsgesetze des Bundes“, heißt es dort. Das sind etwa das BKA- und das Bundespolizeigesetz oder die Geheimdienstgesetze. Zusätzlich soll die Überwachungsgesamtrechnung Polizei- und Verfassungsschutzgesetze der Bundesländer in den Blick nehmen.
Auch das Fluggastdatengesetz und das Rechtsextremismus-Datei-Gesetz zählen laut der Leistungsbeschreibung dazu. Und natürlich sollen die Forschenden sich die Strafprozessordnung anschauen, die eine Vielzahl von Ermittlungsmaßnahmen regelt.
In der Liste fehlen wichtige Gesetze
In der Aufzählung fehlen jedoch Gesetze, die tief in die Freiheit und Privatsphäre von Menschen eingreifen. Ein Beispiel ist das Aufenthaltsgesetz, auf dessen Grundlage Behörden die Smartphones von Geflüchteten und Geduldeten durchsuchen. Oder die Regelungen zum Ausländerzentralregister, die vielen Behörden weitreichenden Zugriff auf umfangreiche Daten zu insbesondere Geflüchteten gewähren.
Was auch nicht in die Überwachungsgesamtrechnung soll: „Zugriffsrechte der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden auf bereits behördlich erhobene Daten“. Dabei läuft gegen einige dieser Rechte derzeit sogar eine Verfassungsbeschwerde: Es geht um die automatisierte Abfrage biometrischer Lichtbilder durch Geheimdienste und andere.
Ebenso schließt die Ausschreibung Befugnisse aus, die aus sogenannten Generalklauseln stammen. Auch diese führen regelmäßig zu Problemen, in der Vergangenheit etwa beim Bundesnachrichtendienst (BND). Der deutsche Auslandsgeheimdienst zog sich in der Vergangenheit immer wieder auf allgemeine Regelungen im BND-Gesetz zurück, wenn es für seine konkreten Spionagemaßnahmen keine direkte Rechtsgrundlage gab.
Geheim bleibt geheim
Um einzuschätzen, wie die Gesetze unsere Freiheit beeinflussen, müssen die Forschenden auch untersuchen, wie sie eingesetzt werden. Wie oft nutzen Behörden Funkzellenabfragen? Wie oft Staatstrojaner? Gehen die Zahlen nach oben?
Dabei dürfte das Team schnell an eine Grenze stoßen, denn Geheimdienste geben solche Informationen nicht bereitwillig heraus. Wie oft der BND Staatstrojaner einsetzt: geheim. Welche technischen Fähigkeiten die Behörden haben, um zu hacken: eingestufte Information. Dabei wären diese Informationen wichtig, um das gesamte Ausmaß der Überwachung einzuschätzen.
Die Ausschreibung macht keine Hoffnungen, dass die Forschenden besondere Einblicke bekommen. Sie sollen möglichst auf „bereits vorhandenes oder leicht generierbares Datenmaterial“ zurückgreifen, um den Aufwand zu reduzieren. Zusätzliche Informationen bekommen sie, wenn „die behördeninterne Erhebung mit verhältnismäßigem Ressourceneinsatz“ möglich ist. Und wenn keine Geheimschutzgründe dagegen stehen. Sie werden also gegen die gleichen Wände an Geheimhaltung stoßen wie Bundestagsabgeordnete, Journalist:innen und andere.
Am Ende soll die künftige „Freiheitskommission“ die Überwachungsgesamtrechnung nutzen und im besten Fall aktualisieren. Dann kommt es auf die Gesetzgeber an, welches Gewicht sie den Einschätzungen geben. Ein Moratorium für neue Überwachungsgesetze, bevor die Überwachungsgesamtrechnung fertig ist, konnte sich nicht durchsetzen. Wer am Ende den Zuschlag für die umfangreiche Analyse bekommt, muss also damit rechnen, dass sich ständig etwas verändert. Durch ein neues Bundespolizeigesetz etwa, das gerade in der Planung ist.
Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.
0 Commentaires